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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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erinnern, und erinnerte sich noch immer nur an die Schnur. Doch mit dem neuen Namen kam ein neues Selbstbewusstsein, das sich oft auf schändliche Weise offenbarte.
    Die Frauen des Schtetls rümpften ihre beeindruckenden Nasen über meine Ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter. Hinter vorgehaltener Hand nannten sie sie schmutziges Flussmädchen und Wasserkind. Zwar waren sie zu abergläubisch, um ihr die Wahrheit über ihre Herkunft zu enthüllen, doch sorgten sie dafür, dass sie keine Freundinnen ihres Alters hatte (indem sie ihren Kindern erzählten, mit ihr habe man nicht so viel zu lachen, wie sie selbst über einen lache, und sie sei nicht so gut wie ihre guten Taten) und ausschließlich Umgang mit Jankel und den Männern des Schtetls pflegte, die mutig genug waren, sich dabei von ihren Frauen beobachten zu lassen. Das waren einige. Auch der selbstsicherste feine Herr geriet in ihrer Gegenwart aus dem Gleichgewicht. Mit kaum zehn Jahren war sie bereits das begehrteste Wesen im ganzen Schtetl, und ihr Ruf hatte, Rinnsalen gleich, die umliegenden Dörfer erreicht.
    Ich habe sie mir oft vorgestellt. Sie ist, selbst für ihr Alter, recht klein - nicht rührend kindlich klein, sondern so klein, wie ein unterernährtes Kind es vielleicht wäre. Und auch sehr mager. Jede Nacht zählt Jankel, bevor er sie zu Bett bringt, ihre Rippen, als könnte eine davon im Lauf des Tages verschwunden und Saat und Nährboden für einen neuen Gefährten geworden sein, der sie ihm stehlen wird. Sie isst gut und ist insofern gesund, als sie nie krank ist, doch ihr Körper sieht aus wie der eines chronisch kranken Mädchens, eines Mädchens, das in einen biologischen Schraubstock gezwängt ist, oder eines hungernden Mädchens, das nur Haut und Knochen ist, eines Mädchens, das nicht ganz frei ist. Ihr Haar ist dick und schwarz, ihre Lippen sind dünn und weiß und glänzend. Wie könnte es auch anders sein?
    Zu Jankels großem Kummer bestand Brod darauf, das dicke, schwarze Haar selbst zu schneiden.
    Das ist nicht damenhaft, sagte er. Wenn es so kurz ist, siehst du aus wie ein Junge.
    Sei kein Dummkopf, sagte sie.
    Aber stört dich das nicht?
    Natürlich stört es mich, wenn du ein Dummkopf bist.
    Dein Haar, sagte er.
    Ich finde es sehr schön.
    Kann es denn schön sein, wenn niemand es schön findet?
    Ich finde es schön.
    Willst du nicht, dass sie es
    Und wenn du die Einzige bist? Dann ist es ganz schön schön. Und was ist mit den Jungen? schön finden?
    Ich will nicht, dass ein Junge mich schön findet, außer er ist die Art von Junge, die mich schön findet.
    Ich finde es schön, sagte er. Ich finde es wunderschön.
    Sag es noch mal, und ich lasse es wachsen.
    Ich weiß, sagte er lachend, küsste sie auf die Stirn und kniff sie in die Ohren.
    Sie lernte nähen (nach einem Buch, das Jankel ihr aus Lwow mitgebracht hatte), und das fiel zeitlich mit ihrer Weigerung zusammen, keine Kleider mehr zu tragen, die sie nicht selbst gemacht hatte. Als er ihr ein Buch über die Physiologie der Tiere mitbrachte, hielt sie die Bilder darin an ihr Gesicht und sagte: Findest du es nicht auch seltsam, Jankel, dass wir sie essen?
    Ich habe noch nie ein Bild gegessen.
    Die Tiere, meine ich. Findest du das nicht seltsam? Ich kann gar nicht glauben, dass ich es noch nie seltsam gefunden habe. Das ist wie mit Namen: Lange Zeit denkt man gar nicht darüber nach, aber wenn man es dann eines Tages doch tut, muss man den Namen einfach immer wieder vor sich hin sagen und sich wundern, warum man es nie seltsam gefunden hat, dass man ausgerechnet diesen Namen hat und alle Welt ihn schon immer benutzt hat.
    Jankel. Jankel. Jankel. Kommt mir gar nicht so seltsam vor.
    Ich esse sie nicht mehr, jedenfalls nicht, solange es mir seltsam vorkommt.
    Brod leistete allem und jedem Widerstand, gab niemandem nach und ließ sich weder provozieren noch nicht provozieren.
    Ich finde dich nicht dickköpfig, sagte Jankel eines Mittags, als sie sich weigerte, vor dem Nachtisch die Hauptmahlzeit zu essen.
    Das bin ich aber!
    Und dafür liebte man sie. Alle liebten sie, selbst die, die sie hassten. Die eigenartigen Umstände ihres Eintritts in die Welt erregten die Faszination der Männer, doch es waren ihre schlauen Kniffe, ihre koketten Gesten und Sprachfiguren, ihre Weigerung, die Existenz der Männer anzuerkennen oder zu ignorieren, die diese dazu brachten, ihr durch die Straßen zu folgen, sie durch Fenster zu betrachten und des Nachts von ihr - und nicht von ihren Frauen, ja nicht

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