Alles ist erleuchtet
einmal von sich selbst - zu träumen.
Ja, Joske. Die Männer, die in der Mühle arbeiten, sind so stark
und mutig.
Ja, Feivel .Ja, ich bin ein braves Mädchen.
Ja, Saul. Ja ja, ich mag Süßigkeiten.
Ja, Itzig, ja. Oh ja.
Jankel brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass er nicht ihr Vater war und dass man sie nicht nur deswegen zur Festkönigin von Trachimbrod gemacht hatte, weil sie zweifellos das am meisten geliebte junge Mädchen des Schtetls war, sondern auch, weil auf dem Grund des Flusses, dessen Namen sie trug, ihr wirklicher Vater lag, weil die kühnen Männer nach ihrem Papa tauchten. Also erfand er immer neue Geschichten -wilde Geschichten mit ungezähmter Bildersprache und extravaganten Charakteren. Er erfand so phantastische Geschichten, dass Brod sie einfach glauben musste. Natürlich war sie nur ein Kind, das noch den Staub seines ersten Todes abschüttelte. Was blieb ihr anderes übrig? Und Jankel sammelte bereits den Staub seines zweiten Todes. Was blieb ihm anderes übrig?
Mit Hilfe der begehrlichen Männer und hasserfüllten Frauen des Schtetls wuchs meine Ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter heran und entwickelte ihre eigenen Interessen: Sie webte, sie arbeitete im Garten, sie las alles, was ihr in die Hände fiel - also praktisch sämtliche Bücher in Jankels gewaltiger Bibliothek, einem Raum, der vom Boden bis zur Decke voller Bücher war und eines Tages Trachimbrods erste Leihbücherei sein würde. Sie war nicht nur die klügste Einwohnerin von Trachimbrod, an die man sich wandte, wenn es schwierige mathematische oder logische Probleme zu lösen galt - DAS HEILIGE WORT, fragte der Hochgeachtete Rabbi sie einmal im Dunkeln, WIE HEISST ES, BROD? -, sondern auch die einsamste und traurigste. Sie war ein Genie der Traurigkeit: Sie badete in Traurigkeit, sie entwirrte die zahlreichen Stränge der Traurigkeit, sie kostete alle zarten Nuancen der Traurigkeit aus. Sie war ein Prisma, durch das die Traurigkeit in ihr unendlich breit gefächertes Spektrum zerlegt werden konnte.
Bist du traurig, Jankel?, fragte sie ihn eines Tages beim Frühstück.
Natürlich, sagte er und schob ihr mit zitterndem Löffel Melonenstücke in den Mund.
Warum?
Weil du redest, anstatt zu frühstücken.
Warst du vorher auch schon traurig?
Natürlich.
Warum?
Weil du gegessen hast, anstatt zu reden, und wenn ich deine Stimme nicht höre, werde ich traurig.
Wirst du auch traurig, wenn du Leuten beim Tanzen zusiehst?
Natürlich.
Mich macht das auch traurig. Woran liegt das, was meinst du?
Er küsste sie auf die Stirn und legte die Hand unter ihr Kinn. Du musst wirklich etwas essen, sagte er. Es ist schon spät.
Findest du, dass Bitzl Bitzl ein besonders trauriger Mensch ist?
Ich weiß nicht.
Und was ist mit der trauernden Schanda?
Oh, ja, sie ist besonders traurig.
Das ist ja klar, nicht? Ist Schloim traurig?
Wer weiß?
Die Zwillinge?
Vielleicht. Das geht uns nichts an.
Ist Gott traurig?
Dazu müsste es Ihn erst einmal geben, meinst du nicht?
Ich weiß, sagte sie und gab ihm einen Klaps auf die Schulter. Darum hab ich ja gefragt - weil ich endlich wissen wollte, ob du an Ihn glaubst!
Tja, dann will ich nur so viel dazu sagen: Wenn es Gott wirklich gibt, dann hat Er eine Menge, worüber Er traurig sein kann. Und wenn es Ihn nicht gibt, dann müsste Ihn das auch traurig machen, würde ich sagen. Die Antwort auf deine Frage ist also: Gott muss traurig sein.
Jankel! Sie schlang die Arme um seinen Hals, als wollte sie sich in ihn oder ihn in sich hineinziehen.
Brod entdeckte 613 Traurigkeiten. Jede davon war absolut einzigartig, ein eigenständiges Gefühl, das mit irgendeiner anderen Traurigkeit ebenso wenig Ähnlichkeit hatte wie Wut, Verzückung, Schuld oder Enttäuschung. Die Traurigkeit des Spiegels. Die Traurigkeit zahmer Vögel. Die Traurigkeit, vor dem eigenen Vater oder der eigenen Mutter traurig zu sein. Die Traurigkeit des Humors. Die Traurigkeit der unerfüllten Liebe.
Sie war wie eine Ertrinkende, die wild mit den Armen ruderte und nach allem griff, was Rettung versprach. Ihr Leben war ein einziger harter, verzweifelter Kampf darum, ihr Leben zu rechtfertigen. Sie lernte unendlich schwierige Lieder auf der Geige zu spielen, Lieder, die jenseits dessen lagen, was sie geglaubt hatte, verstehen zu können, und jedes Mal kam sie dann weinend zu Jankel gelaufen: Das hab ich jetzt auch gelernt! Es ist so schrecklich! Ich muss etwas komponieren, das nicht mal ich spielen kann! Sie verbrachte die
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