Alles ist erleuchtet
sondern weil sie die Löcher in dem Deich stopften, der etwas zurückhielt, das, wie Brod wusste, die Wahrheit war: Sie liebte das Leben nicht. Es gab keinen überzeugenden Grund zu leben.
Jankel war bereits zweiundsiebzig Jahre alt, als der Wagen in den Fluss stürzte, und sein Haus war eher für ein Begräbnis als für eine Geburt gerüstet. Brod las im gedämpften kanariengelben Licht von Öllampen, die mit Spitzentüchern abgedeckt waren, und badete in einer Wanne, die mit Sandpapier ausgelegt war, damit sie nicht ausrutschte. Jankel brachte ihr die Literatur nahe und lehrte sie die Grundbegriffe der Mathematik, bis ihre Kenntnisse die seinen weit überstiegen, er lachte mit ihr, auch wenn es gar nichts Komisches gab, er las ihr vor und sah ihr beim Einschlafen zu, und er war der einzige Mensch, den sie als Freund betrachten konnte. Sie übernahm seinen schwankenden Gang, sprach mit seiner Altmännerbetonung und strich sich sogar über den nachmittäglichen Bartschatten, den es nie, zu keiner Zeit an irgendeinem Tag ihres Lebens, gab.
Ich hab dir in Lutsk ein paar Bücher gekauft, sagte er zu ihr, schloss die Tür und sperrte den frühen Abend und den Rest der Welt aus.
Die können wir uns nicht leisten, sagte sie und nahm ihm den schweren Beutel ab. Ich bringe sie morgen zurück.
Aber wir können uns auch nicht leisten, sie nicht zu haben. Was können wir uns weniger leisten: sie zu haben oder sie nicht zu haben? Meines Erachtens verlieren wir auf jeden Fall. Wenn es nach mir geht, verlieren wir und haben dafür wenigstens die Bücher.
Jankel, du bist lächerlich.
Ich weiß, sagte er, denn ich habe bei meinem Freund, dem Architekten, außerdem einen Kompass und ein paar Bücher mit französischen Gedichten für dich gekauft.
Aber ich kann gar kein Französisch.
Womit ließe sich besser Französisch lernen?
Mit einem Lehrbuch für Französisch.
Ach, ja, ich wusste doch, dass es einen Grund gab, das hier zu kaufen!, sagte er und zog ein dickes, braun eingebundenes Buch hervor, das ganz unten im Beutel gelegen hatte.
Jankel, du bist unmöglich!
Ich bin möglicherweise möglich.
Danke, sagte sie und küsste ihn auf die Stirn. Das war die einzige Stelle, auf die sie je geküsst hatte oder geküsst worden war, und wenn sie nicht all diese Romane gelesen hätte, dann hätte sie gedacht, es sei die einzige Stelle, die man überhaupt küsste.
Sie musste heimlich so viele Dinge, die Jankel für sie gekauft hatte, zurückbringen. Er bemerkte es nie, denn er konnte sich nicht erinnern, sie gekauft zu haben. Es war Brods Idee, ihre Bibliothek in eine öffentliche Leihbücherei umzuwandeln und für jedes entliehene Buch eine kleine Gebühr zu verlangen. Von diesem Geld und dem, was sie von den Männern bekam, die sie liebten, konnten sie ihr Leben fristen.
Jankel gab sich alle Mühe zu verhindern, dass Brod sich wie eine Fremde fühlte und sich ihres Alters- und Geschlechtsunterschiedes bewusst wurde. Er ließ beim Pinkeln die Tür offen (stets setzte er sich dazu hin und wischte sich nachher ab), und gelegentlich spritzte er Wasser auf seine Hose und sagte: Siehst du - mir passiert das auch, ohne zu merken, dass Brod Wasser auf ihre Hose spritzte, um ihn zu beruhigen. Als Brod im Park von der Schaukel gefallen war, schürfte sich Jankel die Knie am Sandpapier in der Badewanne auf und sagte: Ich bin auch hingefallen. Als sie einen Busen bekam, hob er sein Hemd, zeigte ihr seine faltige Altmännerbrust und sagte: Du bist nicht die Einzige.
Das war die Welt, in der sie aufwuchs und er alterte. Sie schufen sich einen Ort, an dem sie Zuflucht vor Trachimbrod fanden, einen Lebensraum, der vollkommen anders war als der Rest der Welt. Hier wurde nie ein hasserfülltes Wort gesprochen oder eine Hand erhoben. Mehr noch: Es gab nicht einmal zornige Worte, und nichts wurde je verleugnet. Und mehr noch: Kein liebloses Wort wurde je gesprochen, und alles galt als weiterer kleiner Beweis, dass es so sein kann und nicht unbedingt anders sein muss; es gibt keine Liebe in der Welt, wir werden uns eine neue Welt erschaffen, und wir werden sie mit dicken Mauern schützen, und wir werden sie ausschließlich mit weichem, rotem Mobiliar ausstatten und einen Klopfer an die Tür hängen, der ein Geräusch macht wie ein Diamant, der auf das Samttuch des Juweliers fällt, sodass wir ihn nie hören werden. Liebe mich, denn Liebe gibt es nicht, und ich habe alles versucht, was es gibt.
Doch meine Ur-ureinsame Großmutter liebte Jankel
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