Alles ist erleuchtet
Kinder hatte. Sie faltete das Höschen sechsmal zusammen, bis es die Form einer Träne hatte, und steckte es in die Brusttasche seines schwarzen Hochzeitsanzugs, wo es, halb verdeckt vom Revers, blütengleich erblühte wie ein elegantes Einstecktuch.
Damit du an mich denkst, sagte sie, bis -
Ich brauche keine Gedächtnisstütze, sagte er und küsste die feuchten Härchen auf ihrer Oberlippe.
Beeil dich, kicherte sie und rückte mit der einen Hand seine Krawatte und mit der anderen das Seil zwischen seinen Beinen zurecht. Du wirst dich noch verspäten. Jetzt lauf zur Sonnenuhr.
Sie erstickte die Worte, die er sagen wollte, mit einem KUSS und schob ihn zur Tür hinaus.
Es war bereits Sommer. Die Blattspitzen des Efeus, der am brüchigen Portal der Synagoge emporrankte, färbten sich dunkel. Die Erde hatte das tiefe Rotbraun von Kaffee zurückerlangt und war wieder weich genug für Tomaten und Minze. Die Fliederbüsche hatten sich bis zur halben Höhe der Verandengeländer emporgeflirtet, die Farbe der Geländer splitterte ab, und die Splitter wurden von der Sommerbrise davongetragen. Die Männer des Schtetls hatten sich schon an der Sonnenuhr versammelt, als mein Großvater keuchend und schweißnass eintraf.
Safran ist da!, verkündete der Aufrechte Rabbi unter den Hochrufen derer, die sich auf dem Platz drängten. Der Bräutigam ist gekommen! Ein Geigenseptett spielte den traditionellen Sonnenuhr-Walzer, die Ältesten des Schtetls klatschten im Takt, und die Kinder pfiffen bei jedem Ta-taa.
DER SONNENUHR-WALZER-CHOR FÜR MÄNNER KURZ VOR DER HEIRAT
Ohhh, kommt, Leute, kommt, denn [Name des Bräutigams] ist hier,
geschniegelt, denn die Hochzeit steht vor der Tür. Wir beneiden sein Glück, es ist kaum zufassen, für diese Braut würde mancher die Hosen unterlassen. Drum, Mädchen, riech seine Knie und küss seinen Mund und bete um Kinder, viel und gesund. Der Rabbi wird euch noch segnen müssen, aber dann, aber dann geht's ab in die Kissen! Ohhh...[Da capo, endlos wiederholt] Mein Großvater gewann seine Fassung, überzeugte sich davon, dass der Reißverschluss seiner Hose auch wirklich geschlossen war, und trat in den langen Schatten der Sonnenuhr. Er musste das uralte Ritual vollziehen, das seit dem tragischen Unfall seines Ur-ur-ur-Großvaters in der Mühle jeder verheiratete Mann von Trachimbrod vollzogen hatte. Er stand im Begriff, sein Junggesellenleben und - zumindest theoretisch - seine sexuelle Ungebundenheit aufzugeben. Doch was ihn am meisten beschäftigte, als er sich (mit großen, bedächtigen Schritten) der Sonnenuhr näherte, war nicht so sehr die Schönheit dieser Zeremonie oder die in allen organisierten Initiationsriten steckende Verlogenheit, ja nicht einmal der Gedanke daran, wie sehr er sich wünschte, das Zigeunermädchen möge jetzt hier sein, damit seine große Liebe bei der Trauung zugegen sein könne, sondern die Tatsache, dass er nun kein Junge mehr war. Er wurde älter und fing bereits an, wie sein Ur-ur-ur-Großvater auszusehen: die gerunzelte Stirn, die seine zart geschnittenen, weichen, femininen Augen überschattete, der Höcker auf dem Nasenrücken, die Art, wie seine Lippen auf der einen Seite ein liegendes U, auf der anderen aber ein V bildeten. Sicherheit und tiefe Traurigkeit - er begann die ihm zugewiesene Rolle in der Familie auszufüllen; er sah unverkennbar wie der Vater des Vaters des Vaters des Vaters seines Vaters aus, und weil das Grübchen in seinem Kinn verriet, dass seine Gene aus eben demselben Topf stammten (der eine von Köchen namens Krieg, Krankheit, Gelegenheit, Liebe und Falsche Liebe zusammengerührte bunte Mischung enthielt), wurde ihm ein Platz am Ende einer langen Reihe zugestanden, womit eine gewisse Versicherung von Existenz und Beständigkeit verbunden war, aber auch eine beschwerliche Einengung der Bewegungsfreiheit. Er war alles andere als frei.
Er war sich auch seines Platzes unter den verheirateten Männern bewusst, die allesamt auf demselben Boden gekniet und eheliche Treue gelobt hatten. Ein jeder von ihnen hatte um die Segnungen eines robusten Geistes, körperlicher Gesundheit, gut aussehender Söhne, überhöhter Löhne und verringerter Libido gebetet. Ein jeder hatte tausendmal die Geschichte von der Sonnenuhr gehört, von den tragischen Umständen ihrer Entstehung und der Größe ihrer Kraft. Ein jeder wusste, dass Safrans Ur-ur-ur-Großmutter Brod zu ihrem jungen Ehemann gesagt hatte: Geh nicht, weil sie nur allzu gut gewusst hatte, dass
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