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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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sagte sie, nahm den Maiskolben und zog ihm die Haut ab. »Haben Sie schon einmal von einer Stadt gehört, die Sofiowka heißt?« »Nein, auch davon habe ich noch nie gehört.« »Tut mir Leid, dass ich Ihre Zeit gestohlen habe«, sagte ich. »Einen schönen Tag noch.« Sie zeigte mir ein trauriges Lächeln, das so war, wie wenn die Ameise in Jankels Ring so tat, als würde sie ihre Gesicht verstecken - ich weiß, dass das ein Symbol ist, aber ich weiß nicht, wofür.
    Ich konnte sie summen hören, als ich wegging. Was sollte ich dem Helden sagen, wenn er keine Schnarcher mehr machte? Was sollte ich Großvater sagen? Wie lange konnten wir versagen, bevor wir uns ergaben? Ich fühlte mich, als ob das ganze Gewicht auf mir lag. Wie bei Vater kann man nur soundso oft sagen »Es tut nicht weh«, bevor es beginnt, noch mehr weh zu tun als der erste Schmerz. Man spürt das Gefühl, dass man Schmerz spürt, und das ist bestimmt schlimmer als der Schmerz. Die Nicht-Wahrheiten hingen vor mir wie Früchte. Welche konnte ich für den Helden pflücken? Welche konnte ich für Großvater pflücken? Welche für mich? Welche für KleinIgor? Dann fiel mir ein, dass ich das Foto von Augustine mitgenommen hatte, und obwohl ich nicht weiß, was mich dazu zwang, das zu tun, drehte ich mich herum und zeigte der Frau das Foto.
    »Haben Sie schon einmal jemanden auf diesem Foto erlebt?«
    Sie beobachtete es für einige Momente. »Nein.«
    Ich weiß nicht, warum, aber ich fragte sie noch einmal.
    »Haben Sie schon einmal jemanden auf diesem Foto erlebt?«
    »Nein«, sagte sie, aber das zweite Mal klang sie nicht wie ein Papagei. Es war eine andere Art von Nein.
    »Haben Sie schon einmal jemanden auf diesem Foto erlebt?«, fragte ich sie, und diesmal hielt ich es ganz nahe vor ihr Gesicht, wie Großvater, wenn er es vor sein Gesicht hielt.
    »Nein«, sagte sie wieder, und diesmal klang es wie eine dritte Art von Nein.
    Ich legte das Foto in ihre Hände.
    »Haben Sie schon einmal jemanden auf diesem Foto erlebt?«
    »Nein«, sagte sie, aber in diesem Nein hörte ich ganz sicher: Bitte frag weiter. Frag mich noch einmal. Also fragte ich sie noch einmal.
    »Haben Sie schon einmal jemanden auf diesem Foto erlebt?«
    Sie bewegte die Daumen über die Gesichter, als ob sie sie auslöschen wollte. »Nein.«
    »Haben Sie schon einmal jemanden auf diesem Foto erlebt?«
    »Nein«, sagte sie und legte das Foto in ihren Schoß.
    »Haben Sie schon einmal jemanden auf diesem Foto erlebt?«, fragte ich.
    »Nein«, sagte sie und beobachtete das Foto weiter, aber nur aus den Ecken ihrer Augen.
    »Haben Sie schon einmal jemanden auf diesem Foto erlebt?«
    »Nein.« Sie summte wieder, aber mit mehr Lautstärke.
    »Haben Sie schon einmal jemanden auf diesem Foto erlebt?«
    »Nein«, sagte sie. »Nein.« Ich sah eine Träne auf ihr weißes Kleid fallen. Sie würde trocknen und einen Fleck machen.
    »Haben Sie schon einmal jemanden auf diesem Foto erlebt?«, fragte ich und fühlte mich grausam, wie ein schrecklicher Mensch, aber ich war sicher, dass ich das Richtige tat.
    »Nein«, sagte sie. »Ich habe keinen von denen erlebt. Sie sehen aus wie Fremde.«
    Ich wagte alles.
    »Hat jemand auf diesem Foto jemals Sie erlebt?«
    »Bist du der, der ich glaube, dass du bist?«
    »Ja«, sagte ich.
    »Ich habe so lange auf dich gewartet.«
    Ich zeigte auf den Wagen. »Wir suchen nach Trachimbrod.«
    »Oh«, sagte sie und ließ einen Fluss aus Tränen fließen. »Ihr seid angekommen. Ich bin Trachimbrod.«

    Sie schob mit den Daumen das Spitzenhöschen hinunter und gestattete ihren schwellenden Genitalien den neckenden Genuss feuchter sommerlicher Aufwinde, die den Geruch von blühenden Blumen, Birken, verbranntem Gummi und Brühe mitbrachten und nun ihren animalischen Geruch zu den nordwärts gelegenen Nasen trugen, ganz wie bei einem Spiel, in dem eine Botschaft im Flüsterton von einem Kind zum anderen weitergegeben wird, bis das letzte schnuppernd den Kopf hebt und sagt: Borschtsch? Außerordentlich bedachtsam hob sie die Füße und stieg aus dem Höschen, als könnte diese Tat allein ihre Geburt, alle Mühen ihrer Eltern und den Sauerstoff, den sie mit jedem Atemzug verbrauchte, rechtfertigen. Als würde diese Tat die Tränen rechtfertigen können, die ihre Kinder an ihrem Totenbett vergossen hätten, wenn sie nicht zusammen mit den anderen Einwohnern des Schtetls - und, wie die anderen Einwohner des Schtetls, zu jung - im Wasser gestorben wäre, bevor sie überhaupt

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