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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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ja.
    Dann bemüh dich ein bisschen mehr, sagte sie und knöpfte seine Hose auf. Sie fuhr mit der Zunge von seiner Halsgrube bis zu seinem Kinn, zog ihm das Hemd aus der Hose und die Hose von der Hüfte und erstickte ihr siebtes Gespräch im Keim. Sie wollte von ihm nichts weiter als Zärtlichkeiten und in hoher Stimmlage gesprochene Worte. Geflüster. Schwüre. Sie ließ ihn immer wieder schwören, treu und ehrlich zu sein: dass er nie eine andere Frau küssen würde, dass er nie auch nur an eine andere Frau denken würde, dass er sie nie verlassen würde.
    Sag es noch einmal.
    Ich werde dich nie verlassen.
    Sag es noch einmal.
    Ich werde dich nie verlassen.
    Noch einmal.
    Ich werde.
    Ich werde was?
    Dich nie verlassen.
    Nach sechs Wochen in der Mühle klopften zwei Kollegen an Brods Tür. Sie brauchte nicht zu fragen, warum sie gekommen waren, sondern brach augenblicklich zusammen.
    Geht weg!, schrie sie und fuhr mit den Händen über den Teppich, als wäre er eine neue Sprache, die sie lernen wollte, ein weiteres Fenster.
    Er hat nicht leiden müssen, sagten sie. Er hat eigentlich gar nichts gespürt. Was sie nur noch mehr, noch lauter weinen ließ. Der Tod ist das Einzige im Leben, dessen man sich, wenn es geschieht, absolut bewusst sein muss.
    Ein Kreissägeblatt aus der Häckselmaschine hatte sich aus der Halterung gelöst und war durch die Mühle geflogen und von Wänden und Deckenbalken abgeprallt. Während alles in Deckung sprang, saß der Kolker auf einem improvisierten Hocker aus aufgestapelten Mehlsäcken und aß ein Käsebrot, in Gedanken versunken über etwas, das Brod gesagt hatte. Er merkte nichts von dem Chaos ringsumher. Das Sägeblatt traf eine Eisenstange (die ein Arbeiter, der später von einem Blitz erschlagen wurde, achtlos auf dem Boden hatte liegen lassen) und fuhr lotrecht mitten in seinen Schädel. Er sah auf, ließ das Käsebrot fallen - Zeugen schworen, die Brotscheiben hätten im Fall die Plätze getauscht - und schloss die Augen.
    Geht weg!, schrie Brod die Männer an, die noch immer stumm in der Tür standen. Weg!
    Aber man hat uns gesagt - :
    Geht!, schrie sie und schlug sich an die Brust. Weg!
    Aber der Vorarbeiter hat gesagt Ihr Schweine!, schrie sie. Lasst eine Trauernde doch trauern!
    Aber er ist gar nicht tot, korrigierte sie der Dickere der beiden.
    Was?
    Er ist gar nicht tot?, fragte sie und hob den Kopf vom Teppich.
    Nein, sagte der andere. Er ist beim Arzt, aber wie es aussieht, hat er praktisch keinen bleibenden Schaden. Du kannst hingehen. Er sieht nicht so schlimm aus. Na ja, nicht sehr jedenfalls, aber er hat kaum geblutet, nur ein bisschen aus der Nase und den Ohren, und das Sägeblatt scheint alles mehr oder weniger zusammenzuhalten.
    Brod weinte jetzt mehr denn zuvor, als sie die Nachricht vom vermeintlichen Tod ihres Mannes gehört hatte. Sie umarmte die Männer und gab dann jedem mit aller Kraft, die in ihren mageren fünfzehnjährigen Armen steckte, einen Faustschlag auf die Nase.
    Tatsächlich war der Kolker kaum verletzt. Er hatte schon nach wenigen Minuten das Bewusstsein wiedererlangt und war aus eigener Kraft durch das Labyrinth aus engen, matschigen Gassen zur Praxis des Arztes (und kundenlosen Lebensmittellieferanten) Dr. Abraham M. gegangen oder vielmehr marschiert.
    Wie heißen Sie?, fragte dieser ihn, während er das Sägeblatt mit einem Greifzirkel vermaß.
    Der Kolker.
    Sehr gut. Der Arzt tupfte mit dem Finger auf einen Sägezahn. Können Sie sich auch an den Namen Ihrer Frau erinnern?
    Natürlich. Brod. Sie heißt Brod.
    Sehr gut. Und was ist Ihnen Ihrer Meinung nach passiert?
    In meinem Kopf steckt ein Kreissägeblatt.
    Sehr gut. Der Arzt musterte das Sägeblatt von allen Seiten. Für ihn sah es aus wie die Sommersonne um fünf Uhr nachmittags, die hinter dem Horizont des Kolkerkopfes unterging, und das erinnerte ihn daran, dass es nicht mehr lange bis zum Abendessen war, der von ihm am meisten geschätzten Mahlzeit des Tages. Haben Sie Schmerzen?
    Ich fühle mich nur anders. Es ist eigentlich kein Schmerz. Eher so etwas wie Heimweh.
    Sehr gut. Heimweh. Können Sie meinem Finger mit den Augen folgen? Nein, nein. Diesem Finger... Sehr gut. Können Sie bis zur Wand dort drüben gehen? Sehr gut.
    Und dann schlug der Kolker ohne jeden Anlass mit der Faust auf den Untersuchungstisch und rief: Sie sind ein fetter Schleimscheißer!
    Entschuldigung? Wie bitte?
    Was war denn?
    Sie haben mich Schleimscheißer genannt.
    Tatsächlich? Ja.
    Das tut mir Leid. Sie

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