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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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die Mühle verflucht war, den jüngsten Arbeitern ohne Vorwarnung das Leben zu rauben. Bitte, such dir eine andere Arbeit oder arbeite gar nicht. Aber versprich mir, dass du nicht in die Mühle gehst.
    Und ein jeder wusste, was der Kolker geantwortet hatte. Sei nicht albern, Brod, hatte er gesagt und ihren Bauch getätschelt, der sich auch nach sieben Monaten noch unter einem weiten Kleid hatte verbergen lassen. Es ist eine sehr gute Arbeit, und ich werde sehr vorsichtig sein, und jetzt will ich nichts mehr davon hören.
    Und ein jeder Bräutigam wusste, dass Brod geweint und in der Nacht die Arbeitskleider des Kolkers versteckt und ihn alle paar Minuten aus dem Schlaf gerüttelt hatte, damit er am nächsten Morgen zu erschöpft war, um aus dem Haus zu gehen. Ein jeder wusste, dass sie sich geweigert hatte, ihm Kaffee zum Frühstück zu kochen, und sogar versucht hatte, ihm Befehle zu erteilen.
    Das ist Liebe, hatte Brod gedacht, oder nicht? Wenn man die Abwesenheit von jemand bemerkt und diese Abwesenheit mehr hasst als alles andere. Sogar noch mehr als man seine Anwesenheit liebt. Ein jeder wusste, dass sie jeden Tag am Fenster auf den Kolker gewartet hatte, dass sie mit der Oberfläche des Glases vertraut geworden war, gesehen hatte, wo es dünner geworden war, wo es sich leicht verfärbt hatte, wo es milchig war. Sie ertastete die winzigen Buckel und Blasen im Glas. Wie eine Blinde, die Blindenschrift lernt, strich sie mit den Fingerspitzen über das Fenster, und wie eine Blinde, die Blindenschrift lernt, fühlte sie sich befreit. Der Rahmen des Fensters war die Mauer des Gefängnisses, das ihr die Freiheit gab. Sie liebte das Gefühl, auf den Kolker zu warten, sie liebte es, für ihr Glück ganz und gar auf ihn angewiesen zu sein, sie liebte es, so lächerlich sie das auch stets gefunden hatte, jemandes Frau zu sein. Sie liebte diese neuen Wörter, die es ihr erlaubten, etwas einfach zu lieben, und zwar mehr zu lieben, als sie ihre Liebe für dieses Etwas geliebt hatte, und sie liebte die Verletzlichkeit, die mit dem Leben in der unmittelbaren Welt, der Welt ersten Grades, einherging. Endlich, dachte sie, endlich. Wenn Jankel wüsste, wie glücklich ich bin.
    Wenn sie weinend aus einem Alptraum erwachte, hielt der Kolker sie im Arm, strich mit den Händen über ihr Haar und fing ihre Tränen in einem Fingerhut auf, damit sie sie am nächsten Morgen trinken konnte. (Die einzige Möglichkeit, Traurigkeit zu überwinden, sagte er, ist, sie zu verzehren.} Und mehr noch: Sobald sie die Augen geschlossen hatte und wieder eingeschlafen war, konnte er keinen Schlaf mehr finden. Es kam zd einer vollständigen Übertragung, wie wenn eine rollende Billardkugel mit einer ruhenden zusammenstößt. Wenn Brod deprimiert war - und das war sie immer - , saß der Kolker bei ihr, bis es ihm gelungen war, sie zu überzeugen, dass alles in Ordnung war. Doch, doch, ist alles in Ordnung. Wirklich. Und wenn sie dann mit ihren täglichen Arbeiten fortfuhr, saß er da, wie gelähmt von einem Kummer, den er nicht benennen konnte und der nicht der seine war. Wenn Brod krank wurde, musste der Kolker spätestens am nächsten Wochenende das Bett hüten. Wenn Brod sich langweilte, weil sie zu viele Sprachen beherrschte, zu viele Fakten wusste, zu viel Wissen besaß, um glücklich zu sein, blieb der Kolker die ganze Nacht auf, las in ihren Büchern und betrachtete die Illustrationen, damit er am nächsten Tag versuchen konnte, eines jener Gespräche zu beginnen, die seiner jungen Frau so gefielen.
    Brod, ist es nicht seltsam, dass bei mathematischen Gleichungen auf einer Seite so viel und auf der anderen so wenig stehen kann? Das ist doch faszinierend! Und was man daraus über das Leben lernen kann!... Brod, du machst schon wieder ein Gesicht wie der Mann, der das Instrument spielt, das wie eine große Spirale aussieht... Und wenn sie auf dem Blechdach ihres kleinen Hauses lagen, zeigte er auf Castor und sagte: Brod, das da oben ist ein Stern. Und das da - er zeigte auf Pollux - ebenfalls. Da bin ich mir sicher. Und die da auch.
    Ja, das sind Sterne, die ich kenne. Bei den anderen bin ich mir nicht hundertprozentig sicher. Die kenne ich nicht.
    Stets durchschaute sie ihn, als wäre auch er ein Fenster. Sie hatte immer das Gefühl, alles über ihn zu wissen, was man wissen konnte - nicht dass er schlicht oder simpel gewesen wäre, aber er war mit dem Verstand erfassbar, wie eine Einkaufsliste, wie eine Enzyklopädie. Er hatte ein Muttermal am

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