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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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gibt es Hoffnung auf eine nächste. Das Glutende ist die Saat der Beständigkeit! Pläne wurden geschrieben: Frühdienst, Morgenfluppe, Mittagskippe, Nachmittags- und Spätnachmittagsbereitschaft, Dämmerzug, einsame Mitternachtszichte. Am Himmel glomm immer mindestens eine Zigarette - das Licht der Hoffnung.
    Ebenso war es für Brod, die wusste, dass die Tage des Kolkers gezählt waren, und daher lange vor seinem Tod zu trauern begann. Sie trug zerrissene schwarze Kleider und saß auf einem niedrigen Holzstuhl. Sie intonierte sogar das Kaddisch der Trauernden, so laut, dass Safran es hören konnte. Es bleiben nur noch wenige Wochen, dachte sie. Tage. Obgleich sie nie weinte, klagte und klagte sie mit trockenen Schluchzern. (Was für meinen Ur-ur-ur-ur-Großvater - der durch das Loch gezeugt worden war und seit acht Monaten in ihrem schweren Bauch war - nicht gut gewesen sein kann.) Und dann rief Schalom-dann-Kolker-und-jetzt-Safran in einem Augenblick geistiger Klarheit durch die Wand: Ich bin immer noch hier, musst du wissen. Du hast versprochen, du würdest bis zu meinem Tod so tun, als würdest du mich Heben, und stattdessen tust du so, als wäre ich tot.
    Das stimmt, dachte Brod. Ich breche mein Versprechen.
    Also fädelten sie die Minuten wie Perlen auf eine Stundenschnur. Keiner von beiden schlief. Sie hielten Wache, die Wangen an die hölzerne Trennwand gedrückt, und schoben sich durch das Loch Zettelchen zu, als wären sie Schulkinder. Sie tauschten Obszönitäten, Luftküsse, blasphemische Schreie und Lieder aus.
    Weine nicht, mein Herz, Weine nicht, mein Herz, Dein Herz ist bei mir. Verdammte Hure, Undankbare Schlampe, Dein Herz ist bei mir. Oh, hab keine Angst, Ich bin näher als nah, Dein Herz ist bei mir. Ich steche dir die Augen aus Und schlage dir den Schädel ein, Du verdammte Hurenschlampe, Dein Herz ist bei mir.
    Ihre letzten Gespräche (achtundneunzig, neunundneunzig, hundert) waren ein Austausch von Schwüren in Form von Sonetten, die Brod aus einem von Jankels Lieblingsbüchern vorlas - ein Zettel löste sich und fiel auf den Boden: Ich musste es für mich selbst tun -, und in Form von Schalom-dann-Kolker-und-jetzt-Safrans widerwärtigsten Verwünschungen, die nicht bedeuteten, was sie zu bedeuten schienen, sondern voller Obertöne waren, die nur seine Frau hören konnte: Es tut mir Leid, dass dies dein Leben gewesen ist. Danke, dass du bei mir so getan hast, als ob.
    Du stirbst, sagte Brod, denn es war die Wahrheit, die alles umfassende und verleugnete Wahrheit, und sie war es leid, Dinge zu sagen, die nicht wahr waren.
    Ich sterbe, sagte er.
    Was für ein Gefühl ist das?
    Ich weiß nicht, kam es durch das Loch. Ich habe Angst.
    Du brauchst keine Angst zu haben, sagte sie. Alles wird gut.
    Wie kann es gut sein?
    Es wird nicht wehtun.
    Ich glaube nicht, dass ich davor Angst habe.
    Wovor hast du dann Angst?
    Ich habe Angst davor, nicht am Leben zu sein.
    Du brauchst keine Angst zu haben, sagte sie wieder.
    Stille.
    Er steckte den Zeigefinger durch das Loch.
    Ich muss dir etwas sagen, Brod.
    Was?
    Es ist etwas, das ich dir sagen wollte, seit wir uns kennen, und ich hätte es dir schon längst sagen sollen, aber je länger ich gewartet habe, desto unmöglicher wurde es. Ich will nicht, dass du mich hasst.
    Ich könnte dich nicht hassen, sagte sie und nahm seinen Finger.
    Das ist alles ganz falsch. Ich wollte es nicht so. Das sollst du wissen.
    Schhhh... Schhhh...
    Ich schulde dir so viel mehr als das.
    Du schuldest mir gar nichts. Schhhh...
    Ich bin ein schlechter Mensch.
    Du bist ein guter Mensch.
    Ich muss dir etwas sagen.
    Ist schon gut.
    Er drückte die Lippen an das Loch. Jankel war nicht dein wirklicher Vater.
    Die Stundenschnur riss. Die Minuten fielen zu Boden, rollten durch das Haus und verloren sich.
    Ich liebe dich, sagte sie, und zum ersten Mal in ihrem Leben hatten die Worte eine Bedeutung.
    Achtzehn Tage später wurde das Baby - das sein Ohr an Brods Nabel gedrückt und alles gehört hatte - geboren. Erschöpft von den Wehen war Brod schließlich eingeschlafen. Nur wenige Minuten später, vielleicht im Augenblick der Geburt - das Haus war so sehr von dem neuen Leben in Anspruch genommen, dass niemand sich des neuen Todes bewusst war - , starb Schalom-dann-Kolker-und-jetzt-Safran, ohne sein drittes Kind gesehen zu haben. Brod bereute es später, dass sie nicht genau wusste, wann er gestorben war. Wenn es vor der Geburt ihres Sohnes geschehen war, hätte sie ihn Schalom oder Kolker

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