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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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oder Safran genannt. Doch die jüdische Sitte verbot es, ein Kind nach einem lebenden Verwandten zu benennen - es hieß, das bringe Unglück. Also nannte sie ihn Jankel, wie ihre anderen beiden Kinder.
    Sie schnitt das Loch aus, das sie und den Kolker in diesen letzten Monaten getrennt hatte, und hängte sich den Holzring um den Hals, neben die Abakusperle, die Jankel ihr vor so langer Zeit geschenkt hatte. Dieser neue Anhänger erinnerte sie an den zweiten Mann, den sie in ihren achtzehn Jahren verloren hatte, und an das Loch, das, wie sie lernte, im Leben nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist. Das Loch ist nicht Leere; die Leere ist rings um das Loch.
    Die Männer in der Mühle, die unbedingt etwas Gutes für Brod tun wollten, etwas, das bewirken würde, dass Brod sie so liebte, wie sie Brod liebten, legten zusammen, um den Leichnam des Kolkers bronzieren zu lassen, und beantragten im Stadtrat, die Statue in der Mitte des Schtetl-Platzes aufstellen zu dürfen, als ein Symbol für Stärke und Wachsamkeit, das, wegen des genau lotrechten Sägeblattes, auch als exakte Sonnenuhr dienen konnte.
    Doch bald war er nicht so sehr ein Symbol für Stärke und Wachsamkeit als vielmehr für die Macht des Glücks. Denn immerhin war es Glück gewesen, dass er an jenem Trachimtag den goldenen Sack gefunden hatte, und das Glück hatte ihn zu Brod geführt, als Jankel sie verlassen hatte. Das Glück hatte das Sägeblatt in seinen Kopf fahren lassen und dort verankert, und das Glück hatte es so eingerichtet, dass sein Tod und die Geburt seines Sohnes zusammenfielen.
    Männer und Frauen kamen aus entfernten Schtetln herbei, um über seine Nase zu reiben, die innerhalb eines Monats bis auf die Haut durchgerieben war und neu bronziert werden musste. Man brachte Kleinkinder zu ihm - immer zur Mittagszeit, wenn er keinen Schatten warf - , damit sie vor Blitzschlag, dem bösen Blick und verirrten Partisanenkugeln geschützt wären. Die Alten erzählten ihm ihre Geheimnisse in der Hoffnung, er möge amüsiert sein, Mitleid mit ihnen haben und ihnen ein paar zusätzliche Jahre schenken. Unverheiratete Frauen küssten seinen Mund und beteten um Liebe, und der Küsse waren so viele, dass seine Lippen eingedellt und zu negativen Küssen wurden und ebenfalls neu bronziert werden mussten. So viele Pilger kamen, um seine verschiedenen Körperteile zu küssen und darüber zu reiben, auf dass ihre verschiedenen Wünsche erfüllt würden, dass er monatlich von Kopf bis Fuß neu bronziert werden musste. Er war ein sich wandelnder Gott, zerstört und aufs Neue erschaffen von seinen Gläubigen, zerstört und aufs Neue erschaffen durch ihren Glauben.
    Mit jeder Bronzierung veränderten sich seine Ausmaße ein wenig. Im Lauf der Zeit hoben sich seine Arme Zentimeter um Zentimeter, und schließlich hingen sie nicht mehr herab, sondern waren hoch über seinen Kopf erhoben. Die kraftlosen Unterarme, die er am Ende seines Lebens gehabt hatte, wurden dick und männlich. Sein Gesicht war von flehenden Händen so oft abgerieben und von ebenso vielen anderen ebenso viele Male wiederhergestellt worden, dass es keinerlei Ähnlichkeit mehr hatte mit dem des Gottes, zu dem die ersten Gläubigen gebetet hatten. Bei jeder neuen Bronzierung modellierten die Künstler das Gesicht der Sonnenuhr nach den Gesichtern seiner männlichen Nachkommen - es war eine umgekehrte Vererbung. (Als also mein Großvater glaubte, er sehe seinem Ur-ur-ur-Großvater immer ähnlicher, war es in Wirklichkeit so, dass sein Ur-ur-ur-Großvater ihm immer ähnlicher sah. Die Offenbarung bestand darin, dass mein Großvater große Ähnlichkeit mit sich selbst hatte.) Die zu ihm beteten, glaubten immer weniger an den Gott, den sie selbst erschaffen hatten, und immer mehr an sich selbst. Die unverheirateten Frauen küssten die eingedellten Lippen der Sonnenuhr, doch ihr Glaube galt nicht ihrem Gott, sondern dem Kuss : Sie küssten sich selbst. Und wenn die Bräutigame vor ihm knieten, dann glaubten sie nicht an den Gott, sondern an das Knien, nicht an die bronzierten Knie des Gottes, sondern an ihre eigenen, schmerzenden Knie.
    Und so kniete mein Großvater - ein vollkommen einzigartiges Glied in einer vollkommen gleichförmigen Kette -beinahe hundertfünfzigjahre, nachdem seine Ur-ur-ur-Groß-mutter Brod den Kolker vom Blitz beleuchtet vor ihrem Fenster hatte stehen sehen. Mit der Hand seines gesunden Arms nahm mein Großvater das Taschentuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn und dann

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