Alles ist erleuchtet
von der Oberlippe.
Ur-ur-ur-Großvater, seufzte er, lass mich nicht den hassen, der ich sein werde.
Als er bereit war weiterzumachen - mit der Zeremonie, mit dem Nachmittag, mit seinem Leben -, stand er auf und hörte abermals die Hochrufe der Männer des Schtetls.
Hurra, der Bräutigam!
Hipp-hipp!
Zur Synagoge!
Sie trugen ihn auf den Schultern durch die Straßen. Lange, weiße Banner hingen von den hohen Fenstern, und die Pflastersteine waren - wenn sie es nur gewusst hätten! - mit weißem Mehl bestäubt worden. An der Spitze des Festzugs spielten wieder die Geigen, diesmal muntere Klezmermelodien, und die Männer stimmten im Chor ein:
Biddel biddel biddel biddel hop
biddel bop...
Weil mein Großvater und die Braut Wankler waren, geriet die Zeremonie unter dem Baldachin äußerst kurz. Der Harmlose Rabbi rezitierte die sieben Segenssprüche, und im rechten Augenblick hob mein Großvater den Schleier seiner Braut - die ihm, als der Rabbi sich zum Thoraschrein umdrehte, rasch und verführerisch zuzwinkerte -, und dann zertrat er den Kristallbecher, der in Wirklichkeit nicht aus Kristall, sondern aus Glas war.
17. November 1997 Lieber Jonathan!
Uff! Ich fühle mich, als ob ich dich von so viel informieren muss. Das Anfangen ist immer sehr hart, nicht? Ich werde mit der weniger harten Sache anfangen, und das ist das Schreiben. Ich konnte nicht sehen, ob du durch den letzten Teil besänftigt warst. Ich verstehe nicht, wohin er dich sehr bewegt hat. Ich bin froh, dass du gutmütig über den Teil bist, den ich erfunden habe, wo ich dir sage, dass du dir den Kaffee einflößen sollst, bis ich mein Gesicht im Boden der Tasse sehen kann, und wo du sagst, dass es eine Steinguttasse ist. Ich glaube, dass ich ein sehr komischer Mensch bin, obwohl Klein-Igor sagt, dass ich nur komisch aussehe. Meine anderen Erfindungen waren auch erstklassig, nicht? Ich frage, weil du nichts darüber geäußert hast in deinem Brief. Ach ja, und natürlich schlucke ich kleine Brötchen für den Teil, den ich erfunden habe über das Wort »fundig« und dass du nicht wusstest, was das heißt. Dieser Teil ist gelöscht worden, genau wie meine Unverfrorenheit. Selbst Alf ist manchmal nicht humorvoll. Ich habe mich angestrengt, dich als einen Menschen erscheinen zu lassen, der weniger Angst hat, wie du es mir an so vielen Gelegenheiten befohlen hast. Das ist schwer zu erreichen, denn du bist ein Mensch mit sehr viel Angst. Vielleicht solltest du Drogen nehmen. Was deine Geschichte angeht, so muss ich dir sagen, dass ich zu Anfang ein sehr perplexer Mensch war. Wer ist dieser neue Safran und wer ist Sonnenuhr und wer heiratet? Zuerst dachte ich, es wäre die Hochzeit zwischen Brod und Kolker, aber als ich merkte, dass das nicht so war, dachte ich: Warum geht ihre Geschichte nicht weiter? Du wirst dich freuen, dass ich weitergelesen habe und meine Versuchung, deinen Teil in den Abfall zu werfen, von mir geschoben habe, und dann wurde alles geklärt. Ich bin sehr froh, dass du zu Brod und Kolker zurückgekehrt bist, obwohl ich auch nicht froh bin, dass er der Mensch geworden ist, der er geworden ist wegen der Säge (ich glaube, damals gab es solche Sägen noch gar nicht, aber ich glaube auch, dass du einen guten Grund für dein Unwissen hast). Und ich bin auch froh, dass sie eine Art von Liebe finden konnten, und aber auch nicht froh, weil es in Wirklichkeit keine Liebe war, oder nicht? Man könnte sehr viel lernen aus der Ehe zwischen Brod und Kolker. Ich weiß zwar nicht, was, aber ich bin sicher, dass es zu tun hat mit Liebe. Und außerdem: Warum nennst du ihn »den Kolker«? Das ist so ähnlich, wie du immer sagst »die Ukraine«, denn das finde ich auch immer ganz sinnlos.
Wenn ich eine Vorschlagung machen darf, dann erlaube Brod bitte, glücklich zu sein. Bitte. Ist das eine so unmögliche Sache? Vielleicht könnte es sie noch immer geben, und sie könnte in der Nähe deines Großvaters Safran sein. Oder eine andere majestätische Idee: Vielleicht könnte Brod Augustine sein. Verstehst du, was ich meine? Du würdest deine Geschichte stark verändern müssen, und sie würde natürlich sehr alt sein, aber wäre das nicht wundervoll?
Die Dinge, die du in deinem Brief über deine Großmutter geschrieben hast, haben mich daran denken lassen, - wie du mir auf Augustines Treppe erzählt hast, wie du unter ihrem Kleid gesessen hast und wie dir das Sicherheit und Frieden geschenkt hat. Ich muss zugestehen, dass mich das damals melancholisch
Weitere Kostenlose Bücher