Alles Ist Ewig
sie hinter ihm über den Boden schleifte. Unter einem breitkrempigen Lederhut trug er eine grauenerregende Maske mit einem langen weißen Schnabel. Seine Augen waren hinter einer rotglasigen Brille verborgen. Er sah aus wie ein Ungeheuer aus den Tiefen der Hölle. Aber Haven kannte diesen Aufzug – es war die Schutzkleidung eines mittelalterlichen Pestarztes. Sie sah, wie sich der Mann über einen reglosen Körper auf dem Kopfsteinpflaster beugte und ihn mit seinem Stab anstupste. Dann hob er den Kopf und blickte Haven direkt an. Sein Gesicht war hinter der Maske verborgen, aber sie konnte sein Missfallen spüren. Sie war es, die auf diesem Platz nichts verloren hatte. Haven blinzelte, und die Szene verschwand.
»Komm. Ich will dir noch etwas zeigen, bevor es dunkel wird«, drängte Iain, und Haven wurde klar, dass er nichts Ungewöhnliches gesehen hatte.
Achtzehn Monate waren vergangen, seit Haven die Ursache für die seltsamen Visionen erfahren hatte, die sie manchmal überkamen. Es handelte sich dabei nicht um Halluzinationen oder sonstige Einbildungen. Heute wusste sie, dass es Erinnerungen waren – Szenen aus ihren früheren Leben. Der Arzt mit der schrecklichen Maske gehörte nicht ins einundzwanzigste Jahrhundert, aber er war einst genauso real gewesen wie der junge Mann, dessen Hand sie hielt.
Die Visionen hatten angefangen, als sie noch ein kleines Kind gewesen war. Über Jahre hinweg war Haven immer wieder in Ohnmacht gefallen und hatte sich in einem anderen Leben wiedergefunden – dem Leben einer schönen jungen Frau namens Constance, die bei einem Feuer umgekommen war. Havens unkontrollierbare »Anfälle« hatten den meisten Menschen um sie herum Angst eingejagt. Sie waren überzeugt, dass das Mädchen krank oder geistesgestört sein musste. Nur Havens Vater hegte den Verdacht, dass seine Tochter jedes Mal, wenn sie bewusstlos wurde, in die Vergangenheit reiste. Als er unerwartet starb, nahm er dieses Geheimnis mit ins Grab, wo es für beinahe zehn Jahre auch geblieben war.
Kurz nach ihrem siebzehnten Geburtstag kehrten Havens Visionen zurück, und erst dann erfuhr sie die Wahrheit darüber. Die Trugbilder von der schönen jungen Frau waren Erinnerungen an eins der vielen Leben, die Haven schon gelebt hatte. Um mehr über Constances frühen Tod zu erfahren, floh Haven aus ihrer Heimatstadt in Tennessee und reiste heimlich nach New York. Dort traf sie schließlich ihre Mörderin, ihre große Liebe und die dunkle Gestalt, die sie seit mehr als zwei Jahrtausenden über alle Ozeane und Kontinente der Welt verfolgte.
Doch auch nachdem das Rätsel um Constances Tod gelöst war, hatten die Visionen nicht aufgehört. Haven wurde zwar nur noch selten ohnmächtig, aber wenn sie schlief, reiste sie immer noch oft an ferne Orte und in die entlegensten Länder. In der Dunkelheit wirkten ihre Träume real, doch wenn der Morgen graute, verblassten sie fast immer. An den meisten Tagen, im hellen Sonnenschein, blieb Haven von ihren Erinnerungen an frühere Leben verschont. Aber schon ein vertrauter Geruch, der Klang eines lang vergessenen Namens, das Gefühl von Iains Atem auf ihrer Haut konnte dazu führen, dass Havens Vergangenheiten mit der Gegenwart verschmolzen. Dann war sie plötzlich verrückt vor Liebe zu einem Mann, dessen leicht schiefes Lächeln so sehr Iains glich. Oder überwältigt von einer machtvollen Mischung aus alten Ängsten und Begierden, die sie noch immer nicht recht verstand.
»Erinnert dich dieser Palazzo an irgendetwas?« Iain ließ Havens Hand los und deutete auf eine Villa am anderen Ende eines kleinen, engen Platzes. Haven blickte ihn an, bevor sie seinem ausgestreckten Finger folgte. Noch immer verspürte sie jedes Mal ein Kribbeln, wenn sie ihm in die Augen sah. Selbst jetzt, das wellige braune Haar unter einer Wollmütze versteckt, die Nase von der bitteren Kälte gerötet, wirkte er beinahe zu schön für einen Sterblichen. Einen Moment lang hätte ihr früheres Leben in Florenz ihr nicht gleichgültiger sein können. Wenn sie es nicht mit Iain hatte teilen können, konnte es kein gutes gewesen sein.
Widerstrebend wandte sie sich dem Gebäude zu, auf das er deutete. Es wirkte mehr wie eine Festung als eine Villa. Das unterste Stockwerk war aus riesigen Steinquadern gebaut, und unter drei voneinander getrennten Torbögen befand sich je eine hohe Eisentür, so groß, dass ein Riese hätte hindurchgehen können. Alle drei waren fest verriegelt, doch Haven wusste, dass sich
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