Alles Ist Ewig
dahinter ein Innenhof verbarg. Und sie wusste, dass die Treppe, die zu den Wohnräumen im zweiten und dritten Stock hinaufführte, hochgezogen werden konnte, für den Fall, dass das Haus angegriffen wurde. Das Gebäude war in gefährlichen Zeiten errichtet worden, und die wohlhabenderen Menschen hatten sich einiges einfallen lassen, um ihr Hab und Gut zu schützen.
Havens Lider flatterten. Sie spürte, wie ihre Beine sich bewegten und gegen den schweren Stoff der Röcke ankämpften, die sie umgaben. Die Wände rings um sie waren in leuchtenden Rot- und Goldtönen gestrichen. Die hölzernen Bodendielen quietschten protestierend, als sie zum offenen Fenster rannte. Sie war nicht groß genug, um hinauszusehen, darum stemmte sie sich auf das Fensterbrett und blickte auf den Platz hinunter, während ihr zierlicher Körper gefährlich weit über den Sims hing.
Ein Junge rannte vom Hof. Seine blaue Tunika und die roten Strümpfe sahen aus, als wären sie zwei Nummern zu groß für ihn. »Lauf! Lauf!«, schrie sie dem Jungen nach und lachte dabei so heftig, dass ihr die Tränen in die Augen traten. »Lass dich nicht von ihnen erwischen!« Die Worte klangen fremd in Havens Ohren, dennoch hatte sie keine Schwierigkeiten, die Sprache zu verstehen.
»Beatrice!« Hinter ihr ertönte eine scharfe Frauenstimme. »Komm sofort da runter! Was hat dein Bruder denn nun wieder angestellt?«
»Ich habe hier gewohnt«, murmelte Haven, nachdem vor ihren Augen wieder das einundzwanzigste Jahrhundert Form angenommen hatte. »Mein Name war Beatrice und ich hatte einen Bruder.«
»Dann hast du ihn gesehen?«, fragte Iain mit einem erwartungsvollen Lächeln. »Hast du ihn erkannt?«
»Erkannt? Ich konnte ihn nicht genau sehen. Nur, wie er weggerannt ist.« Haven hielt inne. »Moment mal, soll das etwa heißen …«
Iain verschränkte die Arme vor der Brust wie ein aufgeblasener Professor und begann mit einem Vortrag, der sich gut in jeder Geschichtsstunde gemacht hätte. »Der Palazzo, den Sie hier sehen, wurde 1329 von Gherardo Vettori, einem wohlhabenden Weinhändler, gekauft. Wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit nun bitte auf das Wappen der Vettori-Familie über der Tür richten würden. Die drei eher unheilvoll wirkenden Delfine darauf tragen Trauben im Maul …«
»Lass den Quatsch und hör auf mich zu ärgern!«, schimpfte Haven, denn sie wusste, dass sie ihn nur ermutigen würde, auf diese Weise weiterzureden, wenn sie jetzt lachte. »Willst du mir etwa erzählen, dass mein Bruder in diesem Leben …« Sie konnte den Satz nicht zu Ende bringen.
»Trotz beeindruckender Manneskraft und einer Schwäche für schöne Frauen setzte Gherardo Vettori nur zwei Kinder in die Welt. Eins von ihnen warst du. Dein Freund Beau das andere. Sein Name war damals Piero Vettori und er war ein Strolch, wie er im Buche steht.«
Einen Moment lang fand Haven keine Worte. Sie hatte schon vor einiger Zeit erfahren, dass Beau Decker, ihr bester Freund aus Tennessee, in einem früheren Leben einmal ihr Bruder gewesen war. Aber sie hatte nicht erwartet, eines Tages vor dem Haus zu stehen, in dem sie siebenhundert Jahre zuvor gestritten, gespielt und einander getröstet hatten.
»Ich wollte dich schon hierherbringen, seit wir in Italien sind«, erklärte Iain. »Es sollte eine Überraschung sein.«
»Dann kanntest du Beatrices Bruder?«
»Ich war mit Piero befreundet, bevor ich starb. Und ich war unsterblich in seine kleine Schwester verliebt. Darüber war er nicht besonders glücklich.«
Haven dachte an den Jungen in der viel zu großen Tunika und an die Liebe, die seine jüngere Schwester zu ihm verspürt hatte. Beatrice Vettori hatte Piero vergöttert. In Havens Vision konnte er nicht älter als dreizehn Jahre gewesen sein, aber seine Schwester hätte vor jedem, der bereit war zuzuhören, damit geprahlt, wie tapfer und klug er war. Sie wusste noch andere Dinge über ihren Bruder, Geheimnisse, die nur sie beide miteinander teilten.
»Ich wünschte, ich hätte mehr sehen können«, sagte Haven traurig. »Ich wünschte, ich hätte dich sehen können. Warum müssen meine Visionen immer so willkürlich sein?«
»Eines Tages wirst du vielleicht alles sehen, wer weiß?«, tröstete Iain sie. »Und dann bist du diejenige, die mir Geschichten erzählt.«
»Vielleicht«, erwiderte Haven, obwohl sie nicht daran glaubte, dass so etwas je passieren würde. Nur mit viel Mühe konnte sie sich ein paar vereinzelte Bruchstücke aus den vielen Leben ins Gedächtnis
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