Alles kam ganz anders
gemeinsam gerichtet. „Ich denke mit so unsagbar viel Dankbarkeit an euch“, schrieb sie. „Die Zeit bei Euch war meine schönste Zeit seit Titines Geburt. Diese merkwürdige Zeit, wo ich von einem Job zum anderen wanderte, wo ich nicht wagte, an die Zukunft zu denken, wo alles mir so hoffnungslos vorkam. Jetzt habe ich neuen Mut. Natürlich türmen sich die Probleme zu unübersehbaren Höhen, aber trotzdem, hinter diesen Türmen meine ich doch, einen Lichtschimmer zu sehen. Ich muß, ich muß es schaffen! Mein gespartes Geld habe ich nicht angerührt. Ich habe – hört und staunt! – drei Nachhilfeschüler bekommen! Mögen sie mich weiterempfehlen! Es ist oft eine Heidenarbeit, besonders ein sechzehnjähriges Mädchen scheint mehr Sägemehl als Hirnzellen im Kopf zu haben, jedenfalls anstatt der Zellen, mit denen ein normaler Mensch französische Grammatik lernen kann. Nun ja. ich strenge mich enorm an. hoffentlich schaffe ich es. daß sie jedenfalls ein ‚Ausreichend’ erreicht.
Übrigens, für Juni habe ich einen Job. der mir hoffentlich viel Trinkgeld einbringen wird. Mutti hat im Juni Urlaub und hat mir angeboten, sich um Titine zu kümmern. Ich werde in einem Ausflugslokal in der Nähe von Hamburg servieren. Sie haben oft ausländische Gäste, ich bete und hoffe, daß mehr Franzosen als Engländer kommen werden! Ich werde so lieb und so höflich und hilfsbereit und geduldig sein, daß alle Gäste den unwiderstehlichen Drang verspüren werden, dieser reizenden Serviererin reichlich Trinkgelder zu geben!
Es ist unglaublich, wie so ein kleines Wesen wie Titine das ganze Leben eines Menschen umkrempeln kann. Ich hatte meine Zukunftspläne so fix und fertig, ich freute mich auf die Dolmetscherschule, auf meine interessante Ausbildung – und alles, alles kam ganz anders!
Ich habe keine richtige Jugend gehabt. Das ist etwas, das man nie im Leben nachholen kann. Als ‚die schöne Jugendzeit’ gerade anfangen wollte, beging ich diese Riesendummheit mit Jean-Louis. Mit einem Mann, den ich nicht liebte, einem Mann, für den ich nur ein kleines Ferienabenteuer war.
Ich möchte es auf dem Markt laut ausrufen, ich möchte es in allen Zeitungen schreiben, ich möchte es im Fernsehen und Rundfunk immer wieder sagen: ‚Liebe Mädchen, ihr solltet euch selbst nicht um das Schönste auf der Welt betrügen: das erste Erlebnis mit einem Mann, den ihr aufrichtig von ganzem Herzen liebt! Das, was ihr nur ein einziges Mal im Leben verschenken könnt, das dürft ihr nicht verschleudern, aus Abenteuerlust, nur weil ihr eben ‚in Stimmung’ seid. oder damit angeben wollt, gewisse Erfahrungen zu haben. Ihr dürft eure Jugend nicht verpfuschen, eure Zukunft nicht aufs Spiel setzen! Hört auf mich, Mädchen, ich weiß, wovon ich rede!’
Ich liebe mein Titinchen. Ich liebe sie abgöttisch. Jetzt, da sie da ist, liebe ich sie. Aber ich weiß, daß es besser gewesen wäre, wenn ich vernünftig gehandelt hätte, meine Ausbildung gemacht, einen Beruf ergriffen, daß es besser gewesen wäre, wenn mein Leben eine andere Form gefunden hätte. Dann erst hätte ich Kinder kriegen sollen. Kinder, denen ich ein viel, viel besseres Leben hätte geben können als das. was ich meinem Titinchen zu bieten habe.
Ach. wenn ich nur schreiben könnte! Ich hätte ein Buch darüber geschrieben, ich hätte all meine Erlebnisse, meine Gedanken, meine Qualen und meine bodenlose Dummheit preisgegeben, um anderen Mädchen zu helfen!“
Mama und ich hatten den Brief gemeinsam gelesen. Bei diesem Punkt hörte Mama mit Lesen auf und sah mich an.
„Elaine, ich glaube, ich habe eine Idee!“
„Und die wäre?“
„Tante Edda! Die müßte man mit Simone zusammenführen!“ Natürlich. Tante Edda, unsere gute Tante Edda, die Jugendschriftstellerin Edda Callies! Wie oft habe ich sie sagen hören: „Ach Kinder, habt ihr nicht eine gute Idee für mich? Manchmal habe ich das Gefühl, ich habe über alle Themen geschrieben, die junge Mädchen interessieren können!“
Ja, Mamas Idee war gut!
„Wenn ich bloß Zeit hätte…“. fing ich an.
„Überlaß das mir. Bleib du bei deinen Schulbüchern“, sagte Mama. Ich blieb bei den Schulbüchern. Das Abitur rückte unheimlich schnell näher. Die Frühlingssonne strahlte. Mama fing mit der Gartenarbeit an – ich las! Dorte radelte zu ihren Reitstunden, sie winkte mir zu – ich las. Bisken kam und zupfte an meinem Hosenbein und legte mir sein Spielzeug vor die Füße. Ich rief Marcus, er spielte mit
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