Alles kam ganz anders
Es gab so furchtbar viel zu fragen und zu erzählen. Papa brachte einen Riesenstoß Fotos mit – zu viel, um alle gleich zu studieren, das mußte warten, bis wir uns leergeplaudert hatten!
Simone zog sich zurück. Marcus ließ sich auch endlich überreden, ins Bett zu gehen. Er war so müde, daß er die Augen kaum aufhalten konnte.
Ich ging mit Ingo hinunter ins Filmatelier. Er blieb vor der Tür stehen und atmete die kühle Abendluft ein.
„Danach habe ich mich drei Monate gesehnt“, sagte er. „Wenn du wüßtest, wie schlimm es ist. wenn man die Lungen mit heißem Dampf füllt, statt mit frischer Luft!“
„Hast du dich noch nach mehr gesehnt?“ fragte ich.
Ingo sah mich an. legte den Arm fester um mich. „Und ob. Lillepus! Und ob!“
Ohne weitere Worte gingen wir hinein. Hier waren wir allein, nur Ingo und ich.
Ingo machte die Tür hinter uns zu.
Ein halbes Jahr später
Die Zeit raste dahin.
Simone fuhr zu ihrer Mutter, und das Fremdenzimmer wurde in aller Eile für Ingos Mutter zurechtgemacht. Am Heiligen Abend rollte Ingos grüne Ente vor unser Tor und entlud ihre teure Last: Ingo. Mutti. Cora und einen großen Karton, den Ingo schleunigst in Sicherheit vor meinen neugierigen Augen brachte.
Cora feierte schwanzwedelnd und fröhlich das Wiedersehen mit uns allen, stellte sich etwas kühl ihrem leiblichen Sohn Bisken gegenüber, leckte Anton und begutachtete Felix, der sich inzwischen zu einem stattlichen, schönen Kater entwickelt hatte.
Tannenduft, brennende Kerzen, schöne Radiomusik, gutes Essen – man merkte, daß Mama wieder kochen konnte! – und sechs Menschen, die sich gut verstanden, die sich gern hatten und diese Tage so richtig genossen!
Nach diesen schönen Tagen fühlten wir uns alle gestärkt, wir hatten für die Arbeit, die uns erwartete, neue Kräfte gespeichert.
Das war auch nötig.
Ingo arbeitete mit Hochdruck an seiner Doktorarbeit. Im Februar mußte er für einige Wochen zu einem Schweizer Professor fahren, um mit ihm zusammen den Bericht über die Yucatan-Ergebnisse zusammenzustellen. Bis Ende Januar wollte er unbedingt die Doktorarbeit schaffen – was ihm auch gelang.
Simone blieb bis Ostern bei uns. Alle die Kundinnen, die ungeduldig auf Mamas Genesung gewartet hatten, überhäuften sie jetzt mit Stoffen und Modezeitschriften, und die Nähmaschine lief beinahe heiß. Simone entwickelte sich zu einer recht guten Köchin und war eine enorme Hilfe für uns.
Papa redigierte Yucatan-Filme, und dazwischen machte er ein paar Werbefilme mit Titine als Hauptperson. Sie fühlte sich anscheinend sehr wohl vor der Kamera und ahnte nicht, daß das Glas Kindernahrung, das schöne bunte Spielzeug oder die feinen neuen Schuhe, mit denen sie sich eifrigst beschäftigte, die Hauptsache waren.
„Sich denken, mit zwei Jahren schon berufstätig zu sein“, sagte Simone. „Eigentlich wollte ich all das Geld für Titine auf ein Sparbuch einzahlen, aber…“
„Das Geld kannst du wirklich mit gutem Gewissen von deiner Tochter borgen“, beruhigte sie Mama. „Wenn du erst Simultan-Dolmetscherin geworden bist, kannst du alles zurückzahlen, mit Wucherzinsen!“
„Außerdem möchte Titine bestimmt gern ihre Mutter versorgen“, meinte ich.
Simone wollte dann zu Ostern nach Hause fahren und versuchen. Nachhilfeschüler in Französisch zu kriegen. Gerade die letzten Monate vor Schuljahrabschluß müßte die richtige Zeit dafür sein, meinte sie.
Bevor sie uns verließ, brachte sie das Haus auf Hochglanz. Da lag kein Staubkörnchen, da war kein ungebügeltes Wäschestück, die Kuchendosen waren gefüllt. Kupfer und Silber strahlten in frischgeputztem Glanz.
„Ich frage mich immer“, sagte Mama, „wie es kommt, daß ein achtzehnjähriges Mädchen so arbeiten kann! Als ich achtzehn war. hatte ich weiß Gott ganz andere Dinge im Kopf als Bügeln und Silberputzen!“
„Das hast du Titine zu verdanken“, sagte Simone mit einem kleinen Lächeln. „Ich habe euch doch erzählt, daß ich mit einem Schlag erwachsen wurde – ja. wenn ich daran zurückdenke, kommt es mir vor. daß ich in wenigen Minuten die Kindheit abstreifte und wußte, daß ich jetzt erwachsen war. Das Verantwortungsgefühl wurde wach, und das hat sich wohl auch auf andere Dinge erstreckt, nicht nur Titine gegenüber. Anders kann ich es nicht erklären.“
„Die Erklärung ist gut genug“, nickte Mama.
„Und sieh dir deine eigene Tochter an“, fuhr Simone fort. „Hat sie nicht auch ganz plötzlich ein
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