Alles kam ganz anders
Marcus. Vergiß es nun nicht.“
„Ich bin doch nicht doof“, sagte mein Bruder.
Da!
Ein Männerkopf ragte über all die anderen empor – es ist immer sehr leicht. Papa in einer Menschenmenge zu finden, wegen seiner Größe!
Sonnenverbrannt, lächelnd, winkend – und da Ingo, der auch nicht der Kleinste ist. aber neben Papa ist er beinahe ein Zwerg. Auch braungebrannt, auch etwas abgemagert, aber sein Gesicht war ein einziges Lächeln!
Als Ingo mich umarmte, hatte ich die Gelegenheit, ihm ins Ohr zu flüstern: „Biete dich an zu fahren. Ingo. Mama muß sich schonen, ich erzähle dir nachher warum.“
So kam es. daß Ingo sich ans Steuer setzte, und Papa genoß es. hinten im Wagen zu sitzen, mit dem Arm um Mamas Schultern und mit seinem Sohn auf dem Schoß. Und ich saß glücklich neben Ingo mit der Hand auf seinem Knie. Wir hatten so eine kleine Verabredung. Wenn ich beim Autofahrer meine Hand auf sein Knie legte, bedeutete es: „Ich habe dich ganz schrecklich lieb!“
Ingo wollte bei uns übernachten und am nächsten Morgen nach Lübeck fahren.
„Ich habe das Filmatelier für dich zurechtgemacht“, sagte ich. „Denn im Fremdenzimmer wohnen Simone und Titine.“
„Ach, ist Titine da?“ sagte Papa. „Das ist ja wunderbar, ich brauche sie dringend. Ja. ich habe einen Brief von Feldmann, ich soll nur losfilmen, nachher werden wir alles auseinanderschneiden und zusammenschustern und sehen, was für Werbefilme wir daraus machen können. Der Seifenfilm ist schon nach England und Frankreich verkauft, das bedeutet Geld sowohl für Simone als auch für mich! Ist sie schon länger bei euch?“
„Ja, einige Wochen, sie hat uns im Haushalt geholfen“, erklärte Mama.
„Damit du an der Nähmaschine sitzen konntest, um Geld zu verdienen“, meinte Papa, und niemand korrigierte ihn.
Simone wartete mit einem entzückend gedeckten Abendbrottisch. Titine schien Papa wiederzuerkennen, jedenfalls verlangte sie energisch, auf seinen Schultern zu reiten!
Erst als sie ins Bett gebracht war. und die Mitbringsel überreicht waren, sagte Mama: „So, Marcus, du bist sehr brav gewesen. Dafür darfst du jetzt Papa erzählen, was uns passiert ist. während er weg war! Asbjörn. mach dich auf alles gefaßt, und kriege keinen Schrecken, du siehst ja. daß alles hier in Ordnung ist.“
„Nanu, habt ihr ein Erdbeben gehabt oder ein Feuer?“ Marcus holte tief Luft, seine Backen waren hochrot, als er endlich sprechen durfte.
„Mama hatte beide Arme gebrochen!“ Papas Teetasse schwappte über.
„Was hat Mama?“
„Beide Arme gebrochen! Beide auf einmal! Und Elaine konnte nicht zur Schule, und sie mußte Mama aufs Klo begleiten, und ich habe Mama gefüttert, manchmal, also, und ich habe ihr die Nase geputzt, und Jessica kam und half Elaine, und sie machte Zitronenpudding, zweimal!“
Marcus war nicht zu bremsen. Sein Redefluß brauste weiter.
„Und weißt du, Papa, Mama kann die Türen mit dem Fuß aufmachen, und sie kann die Knöpfe vom Kassettenrecorder mit der großen Zehe drücken, und dann… ja, und dann kamen Simone und Titine, und dann konnte Elaine wieder zur Schule…“ Endlich mußte Marcus Luft holen, und Papa benutzte die Pause:
„Bernadette! Stimmt das alles?“
„Ja, das muß ich zugeben. Aber es ging recht gut, und wie du weißt, konnte ich den Wagen nach Hannover fahren, und ich habe dich auch umarmen können, das hast du doch gemerkt?“
Die Fragen hagelten nur so auf uns herunter. Fragen von Papa und von Ingo. Wie war es geschehen, wann war es passiert, warum hatte ich Papa nicht benachrichtigt?
„Aber Asbjörn. warum sollten wir?“ sagte Mama. „Du hättest ja doch nichts machen können. Solltest du diese wichtige Arbeit unterbrechen und nach Hause kommen, nur um mir tröstend das Händchen – ich meine den Gipsverband – zu halten?“
„Und Elaine?“ wollte Papa wissen. „Wäre ich hier gewesen, hätte ich dir helfen können, und Elaine hätte zur Schule gehen können. Was ist nun mit diesem so wichtigen Schuljahr? Kannst du all das Versäumte wieder aufholen? Natürlich kriegst du Nachhilfestunden.
Kind, aber ihr hättet es mir erzählen sollen!“
Ich stand auf und ging zu Mamas Schreibtisch im Wohnzimmer. Da holte ich den Brief von Studienrat Buchental und legte ihn neben Papas Teller.
Er las, und Ingo las über seiner Schulter mit.
Dann guckten sie mich an. mit zinntellergroßen Augen. „Donnerwetter“, sagten Papa und Ingo.
Es wurde spät, bis wir zur Ruhe gingen.
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