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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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spät im Jahr, ein letzter schöner Tag. Als die Zeltschnüre abgespannt waren, kamen die vier schon mit ihrer Beute zurück, verschwitzt und mit zerrupftem Haar.
    Die Jagdstrecke war eindrucksvoll: Parasol, Hallimasch, Hexenröhrling. Hilde hatte noch einen Fliegenpilz mitgebracht, um ihrem Vater einen Streich zu spielen. Else schimpfte, und Hilde musste ihn zurück in den Wald tragen.
    Die Pilze rösteten sie über dem offenen Feuer. Die meisten Exemplare verbrannten, der Rest schmeckte allen leidlich gut. Hilde sagte: nach Erde, Käte sagte: nach Rauch, Lotte sagte: nach Würmern. Wegener ergänzte im Stillen: nach Ersatzkaffee.
    Else und er hatten verabredet, noch etwas wach zu bleiben, um in Ruhe über seine Reise zu sprechen. Aber selbst als die Kinder endlich zum Schlafen bereit in ihren Decken lagen, knackte immer noch ein Zweig, fiel irgendwo ein Zapfen zu Boden, war in der Ferne noch ein Heulen zu hören, wahrscheinlich von einer Wildkatze.
    Nach einer geschlagenen Stunde voll unaufhörlichem Singen, Erzählen, Schimpfen ließen Else und er sich erschöpft auf die Bastmatten fallen. Sie konnten, dachte Wegener im Fortdämmern, nur hoffen, dass die Kinder irgendwann ebenfalls in den Schlaf finden würden.
     
    Als er die Augen aufschlug, sah Wegener direkt vor sich den Schatten eines Tieres. Der Fleck kroch über die Zeltbahn.
Eine Ameise, ganz langsam krabbelte sie die Schräge hinauf. Und so wie der Schatten auf dem Zeltstoff ihr Abbild vergrößerte, so verstärkte die gespannte Leinwand das Knistern ihrer Schritte: ein winziges, bedrohliches Ungetüm. Wegener rieb sich die Augen und sah, dass überall auf dem Zelt einzelne Ameisen herumkrabbelten, sie mussten ihr Lager auf einem Bau errichtet haben.
    Er schaute sich um. Die Kinder hatten die hellen Leinendecken von sich gestrampelt und lagen kreuz und quer über den Zeltboden verteilt. Lottes Augenlider waren leicht geöffnet, so dass das Weiße zu sehen war. Sie schmiegte sich eng an Elses Bauch. Hilde schien zu frieren, sie umklammerte ihre angezogenen Beine. Käte hielt beide Hände an den Kopf gepresst, die Haare fielen ihr über die Augen. Im Morgenlicht krochen die Schatten der Ameisen über ihre Körper. War dies das Bild, das er von ihnen mitnehmen würde? Allen vieren standen die Münder offen.
    Wegener schlüpfte aus dem Zelt und ging in den Wald, um Holz zu sammeln. Als er beladen zurückkehrte, lag der ganze Zeltplatz in der Morgensonne. Die Mädchen saßen in ihren Kleidern vor dem Zelt und kämmten einander die Haare. Während er Feuer machte, half Else ihnen beim Flechten. Sonntags bekamen die Töchter Ährenzöpfe. Wie stolz Else jede betrachtete, sobald ihr Werk beendet war. Sie war eine große Anhängerin des Nordischen, nicht anders als Wegener. Stundenlang konnte Else sich über die Schönheit der Jugend auslassen oder über die Kraft in den Augen ihrer Kinder. Bisweilen hatte Wegener das Gefühl, Else verstehe unter dem Nordischen etwas gänzlich anderes als er.

    Nach dem Frühstück brach er auf, um in Mühlen den Postbus zu erreichen, Else und die Kinder wollten den Tag noch in der Natur verbringen, sie würden später nach Graz zurückfahren. Wegener musste den Nachtzug nach Berlin bekommen, wo er Dr. Georgi traf, der als Meteorologe die zentrale Firnstation leiten sollte. Am nächsten Morgen würden sie nach Kopenhagen aufbrechen, wo die Expeditionsteilnehmer während der Wochen bis zur Abfahrt letzte Vorbereitungen treffen würden.
    Er ahnte, wie oft ihm das Bild von diesem Lebewohl vor Augen stehen würde. Deshalb hatte er darum gebeten, hier draußen Abschied zu nehmen, und nicht an einem Bahnhof oder am Quai zwischen allen Reportern wie beim letzten Mal.
    Als er mit geschultertem Gepäck vor ihnen stand, machte Hilde einen Knicks und zauberte hinter dem Rücken ein Büschel Gänseblümchen hervor. Er nahm den Strauß und roch daran, aber es war nichts zu riechen. Dann war Käte an der Reihe und drückte fest und lange seine Hände, dass er schon fürchtete, Hildes Strauß würde Schaden nehmen. Dabei sah sie ihn mit einer solchen Verzweiflung an, dass er wegschauen musste. Zum Glück zog bereits Lotte an seinem Mantel und kletterte rasch zu ihm auf den Arm. Mit ihren kleinen Handflächen drückte sie ihm beide Augen zu, und als er so dastand, beladen und blind, setzte sie auf jedes Lid einen ihrer fast unmerklichen Küsse.
    Dann der Abschied von Else. Einen Moment standen sie voreinander, und niemand wusste etwas zu sagen.

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