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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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hinaus, dem Winter entgegen. Zweitens würde später nicht nur die Zeit fehlen, sondern auch all das Heu, das die Pferde nun während des Wartens fraßen. Sie hatten Futter für hundert Tage, und jedes Tier bekam morgens eine weitere Ration in seinen Schlag geworfen, die es während der nächsten Stunden gemächlich verschlang. Und drittens schließlich wurde mit jedem weiteren Tag
offenkundiger, welchen moralischen Tribut jeder Einzelne von ihnen hier zahlte. Auch Tatkraft, Mut und Vertrauen waren verderbliche Güter.
     
    Jeden Morgen in der Frühe der kurze Moment mit noch geschlossenen Augen, an dem er nirgendwo war, an keinem Ort, als schwebte er weit über allem und erst im Erwachen würde ihm ein Platz zugewiesen, an dem er heute den Tag begann. Morgen für Morgen war es derselbe: das Wiegen in der Dünung, das Klicken der Wellen hinter der Bootswand, die enge Koje, wo er neben sich Georgi im Schlaf atmen hörte, ihre kleine Schreibbank mit den Büchern, das Bullauge, zu dem er schlich, um hinauszusehen. Und jeden Morgen der immer gleiche Anblick: der unermüdlich fallende Schnee, die unzertrennlichen Wolken. Manchmal trieben Eisschollen an ihnen vorbei, nach Süden. Noch immer Windstille, noch immer schrieb der von Georgi in Betrieb gesetzte Barograph eine Linie, die ebenso gerade und ungerührt dahinlief wie der Horizont.
    Zum Frühstück gab es einen schwarzen Teller Mallemukkensuppe.

    Tagsüber saß man in der engen Messe und vertrieb sich die Zeit mit Spielen. Und nicht einmal Würfel hatten sie dabei. Wegener fiel ein, dass auf einer der Gepäcklisten »Spielkarten« gestanden hatte, ein Vorschlag von Else. Er musste sie gestrichen haben, wahrscheinlich aus Gründen der Platzersparnis, noch wahrscheinlicher, weil sie ihm unnötig erschienen waren.

    Nachdem er anfangs lieber in der Koje geblieben war, stieß auch Wegener nach einigen Tagen zu den anderen. Alleine verstrickte man sich nur immer maßloser in den Ärger über die sinnlos verstreichende Zeit. Und er konnte nicht immer von Neuem seine Stiefel schmieren.
    Dr. Sorge, der für die Eisdickenmessungen zuständig sein würde, zeigte ihnen ein Knöchelspiel der Eskimos, bei dem es galt, so geschickt wie möglich kleine Gegenstände vom Tisch aufzuschnappen. Sie praktizierten es mit Zuckerwürfeln, aber Wegener wusste von Mylius-Erichsen, dass die Eskimos Fingerknöchelchen dafür verwendeten. Er stellte sich nicht besonders geschickt dabei an. Im Stillen graute es ihn vor dem Spiel.
    Dann sprachen sie wieder, stundenlang, und Georgi meinte, es müsste interessant sein, ihre Gespräche festzuhalten, besonders abends vor dem Einschlafen. Sie kamen auf die Frage, woher der Antrieb zu besonderen Leistungen stamme und was sie alle hierher gebracht habe. Abenteurertum? Kraftüberschuss? Nach einer Weile erzählte Wegener, wo er die feinmotorische Ungeschicklichkeit erworben hatte, der Daumendurchschuss, worauf alle, die alt genug dafür waren, einander unterbrechend ihre Erlebnisse im Kriege aufreihten, zunächst die Höhepunkte und, nach einigem Schweigen, auch die Momente der Scham. Sie sprachen über den Nihilismus, den Zynismus, sie sprachen über den Optimismus und seine Grenzen. Immer wieder berührten sie das Eheproblem und die Frage, ob die Ehe der Grund war, weshalb sie hier saßen. Diese Dinge beschäftigten sie stärker, als ihnen lieb war.
    Als Opponenten bei diesen Gesprächen erwiesen sich bald die Herren Loewe und Sorge. Loewe wirkte skeptisch,
dabei ungeheuer unterrichtet, leicht melancholisch wohl, noch mehr als den anderen misstraute er sich selbst. Sorge dagegen war ein jugendlicher Optimist, Draufgänger, ebenfalls ungewöhnlich kenntnisreich und vielseitig, aber kraftvoller in den seelischen Regungen. Bei allen Gegensätzen konnte man sie beide gut verstehen.
    Während Vigfus und Georgi versuchten, den Sud gewässerter Trockenpflaumen zu Alkohol zu destillieren, unterhielt Loewe die Runde mit Ansprachen. Es waren Entwürfe der Festreden, die man ihnen nach der Rückkehr halten würde, wenn ihnen die Institute der Welt offen stünden. Seiner Meinung nach erwartete sie nicht weniger als Weltruhm. Wegener fand nicht heraus, ob es ihm ernst damit war.
    Sorge jedenfalls störte sich an dem polemischen Ton, so dass bald ein erbitterter Disput entbrannte. Am Ende streckte Loewe die Waffen und zog sich auf die Aussicht zurück, sie alle würden, da ihnen bis zu ihrer Rückkehr gewiss sämtliche Glieder abgefroren seien, als Pförtner am

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