Alles Land - Roman
Reihe. Er hatte ihr Ohrläppchen schon zwischen den Fingern, als er sich noch einmal zu ihr hinunterbeugte, das dicke Gesicht dicht vor ihrem, und leise sagte: »Und du, Wegener, also auch?« Und dann zog er so lange und fest, dass Käte glaubte, ihr Kopf müsse abreißen, schon sah sie ihn durch den Schnee rollen, den zugefrorenen Fluss hinab, aufs Wehr zu, und gerade bevor er dort im Strudel des offenen Wassers versank, ließ der Direktor sie los.
Einmal noch schellte Gangolf Schwinner bei ihnen, unangemeldet, es war bereits Nacht. Wegener öffnete im Nachtrock, leise, um die anderen nicht zu wecken, und gleich stürzte Schwinner auf ihn zu und fasste ihn am Arm. Er habe nachgedacht.
Wegener solle seinen Aufsatz vergessen. Was er geschrieben habe, führe ab vom Wesentlichen. Es gehe darum, bei alldem ein anständiger Mensch zu bleiben. Und um die Wahrheit gehe es, natürlich, immer zuerst um die Wahrheit, zuerst und zuletzt. »Haben Sie von Margules gehört?«
Wegener hatte nicht.
»Max Margules, anständiger Mensch. Zweifellos hätten Sie ihn ebenso ins Herz geschlossen, wie ich selbst ihn ins Herz geschlossen hätte. Wäre mir das Geschenk einer Begegnung noch vergönnt gewesen.«
Schwinner schien getrunken zu haben.
»Gebürtig aus Galizien. Ein Weniges älter als wir beide, wenn Sie gestatten. Studierter Physiker, promovierter Philosoph. Gute Verbindung, nicht wahr?«
Wegener nickte unmerklich.
»Hat als Erster die Wucht eines Sturmes mit seinem Wärmegehalt in Verbindung gebracht. Als Ansatz gar nicht mal uninteressant.«
Wegener musste ihm recht geben. Darüber ließe sich in der Tat weiter nachdenken. Wenn man die Zeit dazu aufbrachte.
»Kurz und gut«, fuhr Schwinner bereits fort. »Dieser Margules verfiel auf die Idee, die Wettervorhersage mit dem Massenerhaltungssatz in Verbindung zu bringen. Fragen Sie nicht, warum.«
Wegener hütete sich.
»All diese Annahmen brachte er in eine einzige gewaltige Gleichung. Wie es sich gehört. Und erkannte mit Schrecken, dass sich nahezu alles wieder herauskürzen ließ. Am Ende führte sie zu fehlerhaften, ja absurden Resultaten. «
Wegener gratulierte dem unbekannten Kollegen im Stillen.
»Max Margules hat …« An dieser Stelle machte Schwinner, der während der letzten Sätze die Lider geschlossen hatte, eine Pause und sah auf. Wegener konnte das Helle seiner Augäpfel erkennen, es war glasig wie Eiweiß. »Max Margules hat daher geschlossen, dass das Voraussagen des zukünftigen Wetters generell unmöglich ist. Ein Satz, mit dem er sich keine Freunde gemacht hat. Damit nicht genug, hat er aus seinen Betrachtungen auch noch abgeleitet, dass bereits der Versuch einer solchen Vorhersage unmoralisch ist.«
Wegener fragte sich, ob es an der Zeit sei, die Tür wieder zu schließen. Ihn fröstelte unter seinem Nachtrock.
»Spätere Jahre«, fuhr Schwinner fort, »hat Margules damit zugebracht, von der Unmöglichkeit einer Wettervorhersage auf die Unmöglichkeit Gottes zu schließen.«
Wegener, um das Gespräch zu beenden, fragte, was dieser Margules denn heute tue. Vielleicht könne man sich ja einmal am Rande eines Kongresses zusammensetzen. Bei Tageslicht.
»Er ist«, rief Schwinner, »doch tot! Gestorben, verhungert, aus Dummheit. Er hat nicht verstanden, für sich selbst zu sorgen.«
Wegener versprach, den Herrn in sein Nachtgebet aufzunehmen, und schloss die Tür.
Am letzten Wochenende vor dem Aufbruch, als alles längst gepackt war, nahm er Else und die Kinder mit auf einen Ausflug. Über Maria in der Zirbe wanderten sie zum Zirbitzkogel. Lotte war schon seit dem Morgen miesepetrig, und Else versuchte sie mit Geschichten bei Laune zu halten.
Wegener trug den Rucksack, er hatte seinen Knotenstock dabei und lief ein paar Schritte vor den anderen. Dass er sang, fiel ihm erst auf, als nach einer Weile Else einstimmte: »Will niemand singen, so sing aber ich.« Sein Vater hatte das bei ihren Spaziergängen am Zechliner See oft vor sich hin gebrummt. »Über Berg und Tal hört man meinen Schall«, und wieder von vorn. Else sang versetzt, was Wegener störte. Warum ließ sie ihn nicht einmal etwas alleine tun? Immerhin hörte Lotte mit dem Heulen auf. Und auch Wegener musste zugeben, dass es schön klang,
im Duett. Dennoch blieb es ihm ein Rätsel, wozu man einen solchen Vers im Kanon singen sollte.
Am Nachmittag erreichten sie den Lavantsee. Während Wegener auf einer Lichtung das Zelt errichtete, sammelten die Damen im Unterholz Pilze. Es war
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