Alles Land - Roman
Am Ende schluckte er und sagte: »Ihr werdet endlich in den Süden fahren können. Ans Mittelmeer.«
Sie lächelte. »Ja, während du dich im Landesinneren vergräbst.«
»Gib auf die Kinder acht. Und auf deine Eltern. Auf dich.«
»Du wirst genug damit zu tun haben, auf dich selber aufzupassen. Versprichst du mir, das zu tun?«
Wegener nickte.
Wie lange er Else nicht mehr angesehen hatte. Im Gegenlicht kniff sie die Lider ein wenig zusammen, über all dem Nähen hatte sie ihr Augenlicht immer weiter vergossen. Er hätte sie in der Kriegszeit nie allein lassen dürfen. Zum Glück war Hilde mittlerweile verständig genug, um ihr zur Hand zu gehen, wo es notwendig war. Noch immer aber erkannte Wegener die Frau, deren Hand er einmal auf einem Deich umklammert hatte. Das Gesicht, das ihn über den Rand eines Ballonkorbs hin entsetzt angesehen hatte. Seine Wonne, sein Ballast. Er schloss die Augen und beugte sich hinunter, um ihr einen Kuss zu geben. Auch das hatte er seit einer Ewigkeit nicht getan.
Aber Else hatte schon die Hände vors Gesicht geschlagen, weil ihr die Tränen kamen. Sein Mund traf nur ihre Fingerknöchel. Gleich öffnete Else die Hände einen Spalt, so dass sie sich doch noch küssen konnten, und von unten fragte Lotte, warum sie dabei lachten.
Der Weg hinunter ins Tal war steil und führte querfeldein. Wegener hatte versprochen, Markierungen zu hinterlassen, also riss er hier und da trockene Äste ab und steckte sie in die nasse Erde. Er sammelte lose Steine, die er zu kleinen,
wackeligen Türmen übereinanderschichtete, in der Hoffnung, etwas zu hinterlassen, das Else und den Kindern auf ihrem Weg helfen würde. Am Fuß des Berges blieb er stehen und steckte in eine Astgabel am letzten der Pfähle die zerdrückten Reste von Hildes Blumenstrauß. Dann sah er sich um, ob sich seine Spur auch deutlich genug zeigte, aber von hier unten war nichts mehr davon zu erkennen.
Studien über die Luftwogen
Das Meer floss aufwärts. Er war sich bewusst, einer Täuschung aufzusitzen, aber es ließ sich anders nicht beschreiben. Wenn er an der Reling stand und sich umschaute, sah es tatsächlich so aus, als stiege das Meer zum Horizont hin an. Ganz leicht nur, aber ausreichend, dass ein Schiff wie ihres Mühe haben dürfte, hinaufzugelangen. Eine kaum wahrnehmbare Wölbung in der schwarzblauen, fast spiegelglatten See, ähnlich schwach wie die zu erwartende Krümmung der Erdoberfläche, nur dass sie sich, wenn man dem äußeren Anschein trauen mochte, jetzt nicht auf der Außenseite einer Kugel befanden, sondern in ihrem Inneren.
Wegener schüttelte den Kopf. Der Eindruck blieb. Er fragte sich, ob das Wissen, dass etwas nicht sein konnte, dabei half, eine Täuschung zu entkräften, oder ob sie sich durch einen solchen Einspruch gar nicht beeindrucken ließ. Das Gefühl, einen Hang hinaufzufahren, war jedenfalls nicht zu verscheuchen.
Dabei fuhren sie nicht einmal. Seit zwei Wochen lag die Gustav Holm am Eisrand von Kekertat, unbeweglich. April, und noch immer warteten sie darauf, dass sich das Eis endlich öffnete. Sie hätten längst abladen müssen. Mit jedem Morgen, an dem ihnen die Durchfahrt weiter
versperrt blieb, verzögerte sich ihr Plan um einen neuen Tag.
Länger als geplant hatten sie in Kopenhagen mit dem Ordnen und Verstauen der Ladung zugebracht. Fast ebenso lange, wie Else im Herbst für das Tippen der Gepäcklisten gebraucht hatte: Zuordnungen, Gefahrengruppen, Gewicht. Zusammengezählt waren es einhundert Tonnen Ladung, die sie übers Wasser gebracht hatten. Jetzt musste das noch an Land, und dann hinauf aufs Inlandeis.
Kapitän Vestmar hatte beim Einladen wegen des vielen Gepäcks kopfgestanden. Allein die vorgefertigten Wände des Winterhauses, dann das Hundefutter, immer neue Kisten voller Messinstrumente, Fässer mit konsistentem Fett. Vor allem aber Heu, Heu, Heu, am Ende waren es zwei volle Waggonladungen geworden.
Sie würden nun doch nicht auf die Tiere verzichten. Auf Island hatten sie eine längere Station gemacht, um Pferde einzuladen, von denen Wegener sich Hilfe beim Transport des Gepäcks über den Gletscherhang versprach. Außerdem war Vigfus zu ihnen gestoßen, der es sich zu Wegeners Freude nicht nehmen ließ, wieder mit von der Partie zu sein. Auf der Gustav Holm waren unter seiner Anleitung einige Pferdeställe eingebaut worden. Vor Ort wollte Wegener noch Schlittenhunde versammeln, man konnte sich nicht nur auf die moderne Technik verlassen, die ja noch
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