Alles Land - Roman
gänzlich unerprobt war.
Wenn es ihnen denn endlich einmal gelang, anzulegen.
Erst als sie alles andere vertäut hatten, waren in Kopenhagen noch die Motorschlitten eingetroffen. Vestmar war sofort zu Wegener aufs Unterdeck gestürzt. Auf dem Quai stünden drei riesige Kisten, jede von der Größe
eines Speditionswagens. Nur über seine Leiche kämen die Ungetüme noch an Bord. Es kostete Wegener einige Überredungskunst, den Kapitän von seinem Plan abzubringen, sich über Bord zu stürzen.
In der folgenden Kopenhagener Nacht hatte ihn auf einmal wieder die Erinnerung an sein Pustervig-Exil überfallen. Stundenlang lag er wach und staunte über die strahlende Schwärze vor seinen Augen, die sich auch durch Blinzeln nicht vertreiben ließ. So hatte der Schnee, wenn Wegener damals vor die Tür getreten war, im Dunkeln geleuchtet.
Also hatte er am Morgen den glaziologischen Assistenten Dr. Loewe gebeten, im örtlichen Musikalienhandel noch rasch um eine kleine Freude für die lange Winternacht zu bitten. Am gleichen Abend standen neun Grammophone am Quai, von Raureif bedeckt. Dazu Schallplatten: »Adieu, mein kleiner Gardeoffizier«, »Ich bin die fesche Lola« sowie mehrmals »Nimm dich in Acht vor blonden Frauen«. Was wussten die Menschen von den Bedürfnissen einer Polarnacht? Kurz hatte Wegener überlegt, einige der Gaben zurückzulassen, dann aber entschieden, dass sie willkommene Geschenke für die Eskimos abgeben würden.
Und nun – nach wochenlanger, stürmischer Überfahrt, nach dem Zwischenstopp auf Island, wo es ihnen nur mit vereinten Kräften gelungen war, die Pferde an Bord zu zerren, nach der Weiterreise an die grönländische Westküste – , nun lagen sie, ebenso tatendurstig wie erschöpft, in Sichtweite von Kamarujuk, ihrem Bestimmungsort, und konnten nicht abladen.
Das Land, wenige Hundert Meter entfernt, eine Mischung aus Schnee und dem Grau der Geröllhänge. Der farblose Fjord. Die scharfen Handrücken der zur Küste hin auslaufenden Bergzüge, als streckten sie ihre steinernen Finger nach ihnen aus.
Darüber die Linie des Inlandeises. Davor das Wasser, finster. Stundenlang konnte man in diese Landschaft schauen, ohne die geringste Bewegung auszumachen.
Mittlerweile war es Mai. Wenn man an Deck saß, im Windschatten der Kanister, wurde es in der Sonne regelrecht warm. Sobald man aber aufstand und um die Ecke in den Schatten trat, schlug einem die Luft ihre Eiseskälte ins Gesicht, die vom Inland herankam und jede Hoffnung auf ein Ende des Frostes zunichtemachte.
Noch immer teilte die Eiskante das Meer in einen flüssigen und einen festen Teil. Eine Passage vom einen zum anderen war nicht vorgesehen. Ihr Versuch, das Eis zu brechen, schlug fehl.
Was der Plan war: anlanden, ausladen, mithilfe der Pferde das Gepäck hinauf aufs Inlandeis schaffen, über die Gletscherzunge, die den einzigen halbwegs geradlinigen Aufstieg bot. Es würde Wochen dauern. Oben das Winterhaus der Weststation errichten. Nur Georgi sollte vorab nach Eismitte reisen, um mit den Messungen zu beginnen, je nach Stand der Dinge in Begleitung von Dr. Sorge. Mit einigen Touren alles Nötige zu ihnen ins Eis bringen, mit Hunde- oder Motorschlitten, was immer sich bewährte. Am besten beides.
Wegener ertappte sich dabei, wie er eine Melodie summte, und erst nach einer ganzen Weile fielen ihm auch die dazugehörigen Verse ein: »Ein sehr harter Winter ist / wenn ein Wolf, ein Wolf, ein Wolf den andern frisst.« Seine Mutter hatte es ihm vorgesungen und später er selbst seinen Töchtern.
Er sah sich um. Auf dem ganzen Mitteldeck türmten sich schiffshoch die Benzinkanister und schaukelten sacht in der Dünung. Der Sprengstoff dagegen lagerte in der Vorderlast beim Heu. An Bord war jedes offene Feuer strengstens verboten. Auf Island hatte sich die ganze Besatzung gleich nach dem Landgang am Quai aufgestellt, in einer Reihe, und sicherlich eine halbe Stunde lang schweigend geraucht. Auch jetzt hielten es einige kaum mehr aus. Am Morgen war Manfred Kraus zu ihm gekommen, der Propellerschlittenführer, und hatte gefragt, ob er für einen Moment ins Rettungsboot übersiedeln dürfe, um dort zu rauchen. Aber dort lagerten, seit die Fahrt unterbrochen war, schon die Sprengkapseln.
Nachts stahl sich mit rötlichem Schein der Vollmond flach am Horizont entlang. In den Schatten eines einzelnen Wolkenstreifens geduckt wie ein Dieb.
Das Fatale am Warten war dreierlei: Erstens schob jeder Tag ihre Pläne weiter
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