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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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Meteorologischen Institut enden.
    Es war Karl Weiken, ein Geodät mit Erfahrung auf dem Feld der Schweremessung, der ein neues Spiel vorschlug. Er tippte seinen Zeigefinger in den Aschekasten des Ofens und schrieb Georgi einen Namen auf die Stirn: Gandhi .
    Die Männer sahen ihn verwundert an. Am verwundertsten schaute Georgi, der versuchte, sich selber auf die Stirn zu sehen.
    »Es geht darum«, sagte Weiken, »zu erraten, wer man ist. Dazu darf man den anderen Fragen stellen, auf die sich mit Matthäus 5,37 antworten lässt.«
    Gudmund Gislanson, ein isländischer Medizinstudent, der als Pferdeführer dazugestoßen war, wagte nachzufragen,
was es damit auf sich habe. Entschuldigend fügte er hinzu, seine Deutschkenntnisse seien beschränkt.
    Wegener konnte aushelfen: »Seligpreisungen. ›Eure Rede aber sei: Ja, ja, nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.‹«
    Weiken nickte. Dann schrieb er Al Capone auf Loewes Stirn. Der Geophysiker Dr. Wölcken hieß nun Haile Selassie, Gislanson selber wurde zu Sokrates. Am Ende kam Weiken mit seinem Aschefinger auf Wegener zu und begann ihm damit über die Stirn zu fahren. Wegener schloss die Augen und versuchte an etwas anderes zu denken. Ein J, ein E, ein S. Wollte Weiken ihn foppen? Als der Finger auf seiner Stirn den Bogen eines U beschrieb, forderte Wegener Weiken im Flüsterton auf, bitte undeutlicher zu schreiben.
    Der Finger stockte, dann wischte er rasch über Wegeners Stirn und setzte erneut an, nun von so vielen Schlenkern, Kringeln und Unterstreichungen begleitet, dass es tatsächlich unmöglich war, die Schrift zu entziffern.
    Am Ende öffnete Wegener die Augen, tippte sich selber etwas Asche auf die Fingerspitze und taufte Weiken damit auf den Namen Schrödinger.
    Das Raten dauerte lange, erwies sich aber tatsächlich als vergnüglicher Zeitvertreib. Loewe hatte sämtliche Sternchen der amerikanischen Filmindustrie durchgeraten, bevor er darauf verfiel, eher eine Größe der Unterwelt als der Unterhaltung zu sein. Friedrichs verstrickte sich in die fixe Idee, es müsse sich bei ihm um einen der Heiligen Drei Könige handeln. Der arme Gislanson wurde arg verunsichert, als auf seinen Seufzer, er wisse nicht, alle stürmisch zu nicken begannen. Georgi ging lange davon aus, Buddha
zu sein, bis ihn der Tipp, sich in der Statur eher ans Gegenteil zu halten, auf die richtige Spur führte.
    Am Ende blieb Wegener allein übrig. Oder der, der er nun sein sollte. Während die anderen auf ihrem Seehundfleisch kauten, verzweifelte er zusehends, obwohl er rasch herausgefunden hatte, dass es sich bei ihm um den Sohn eines Berliner Pastors handelte. War er das nicht selbst? Als sich am Ende herausstellte, dass er eben gestorben sei, gab Wegener auf.
    Georgi verriet ihm die Lösung: »Horst Wessel!« Wegener sah ihn verständnislos an. »Ist gerade gestorben, Hitlers Märtyrer.« Wegener musste sich entschuldigen. Hatte es an den Vorbereitungen zur Fahrt gelegen, dass er davon nichts mitbekommen hatte? Er fragte, wer Hitler sei. Niemand wagte ihn auszulachen.

    Dann stand er mit Georgi an der Reling, von Zeit zu Zeit erglomm unten auf dem Eis im Widerschein einer Zigarette die dämmrige Silhouette von Kraus, der unterdessen seine Scheu abgelegt hatte und sich abends auf die Kante hinunterließ, um zu rauchen.
    Georgi sagte, wenn sie noch lange so zuwarteten, würden sie mit den Eisschollen einmal um Grönland herumtreiben.
    »Oder um die ganze Welt«, ergänzte Wegener.
    »Wohin würde es uns wohl führen?« Georgi sah zu ihm auf.
    Wegener brach einen Eiszapfen ab, der sich an der Reling gebildet hatte, und leckte daran. »Wir würden«,
sagte er, »hinüber an den kanadischen Schelfsockel treiben, auf Höhe Neubraunschweig, dann die amerikanische Ostküste hinunter und spätestens in der Karibik schmelzen.«
    »Schmelzen? Wir?«
    Wegener bat um Verzeihung, er habe die Eisschollen gemeint. »Wir selbst gingen wohl einfach an Land.«
    Sie schwiegen noch eine Weile, dann grummelte Georgi einen Gruß und ging ab.
     
    Anders als seinen Mitreisenden fehlte Wegener das Rauchen kaum. Wenn er hier draußen im Zwielicht stand und mit jedem Atemzug eine neue Wolke ausstieß, die eindrucksvoller war als jeder Rauchkringel, vermisste er nichts. Wenn nur das Eis dort unten sich endlich trollte. Sie würden durch Tüchtigkeit gutmachen müssen, was das Glück versäumte.
    Noch immer erleuchtete von Zeit zu Zeit Kraus’ winzige Zigarettenglut die ewige Dämmerung. Wegener hatte

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