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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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Kurt kletterte in den Korb, der Schiedsrichter löste das Seil, und die beiden
hoben ab. Sie hatten achtunddreißig Sack Ballast an Bord.
    Der Ballon gewann schnell an Höhe. Unten blieben die Häuser zurück, die Wiesen und das ganze Land. Das Krabbeln am Boden. Niemals zuvor hatte sich Wegener so leicht gefühlt und zugleich so furchtsam, auf erregende Weise. Über ihm nur noch der Ballon, das riesige Nichts, an dem sie hingen wie an einem Glauben. Mit jedem Meter Höhe fiel das Atmen leichter. Endlich fort vom Boden und seinen Ungewissheiten, seinem Ungeziefer. Fort von den Ameisen.
    Stetig steigend ging die Fahrt über Kremmen und den Ruppiner See nach Nordwesten. Als entfernte Punkte waren die anderen Luftschiffe am Himmel zu erkennen, über und unter ihnen, aber einer nach dem anderen wurde aus ihrem Gesichtsfeld geweht. Wegener nahm sich vor, bei besserer Gelegenheit darüber nachzudenken, ob das Strömungsverhalten einzelner Luftschichten eine eigene Untersuchung rechtfertigen könnte.
    Am späten Vormittag überflogen sie Wittstock, wo ihre Eltern einander zum ersten Mal begegnet waren. Hocherfreut entdeckten beide Brüder den Hof des Superintendenten, aber als sie darauf zeigten, mussten sie feststellen, dass sie unterschiedliche Gebäude meinten. Noch bevor es ihnen gelang, sich auf ein Haus zu verständigen, trieben sie weiter.
    Mittags erreichten sie die Ostsee bei Wismar. Das Meer dunkelgrün, wegen des ablandigen Windes waren kaum Brandungswellen zu sehen. Sie führten mit: vier Koteletts, zwei Flaschen Selters, zwei Apfelsinen sowie zwei Pfund Schokolade, von der jedes der beiden Besatzungsmitglieder nun einen Riegel erhielt.

    Bei mittlerer Höhe passierten sie die Westküste von Fehmarn. Sie bildeten sich ein, über dem offenen Meer werde es kühler, kamen aber überein, dass es keinen plausiblen Grund dafür gebe. Am Horizont war bereits die Südspitze Langelands zu erkennen. Sie aßen jeder ein Kotelett.
    Es wurde Abend, als sie über Horsens flogen, an der jütländischen Küste. Der Wind flaute ab. Leider mussten sie feststellen, in der Aufregung des Starts ihre Mäntel vergessen zu haben. Kurt meinte, Alfred habe sie bei der Anmeldung über die Lehne eines Stuhls gelegt, als er die Ausweise vorzeigte. Ein kaum zu entschuldigender Fehler. Alfred dagegen war sicher, gesehen zu haben, wie Kurt sie vor dem Start ins Gras legte, um beim Überprüfen der Vertäuung die Hände frei zu haben.
    Sie hatten viertelstündliche Messungen der Lufttemperatur verabredet, um einigen wissenschaftlichen Nutzen aus der Fahrt zu ziehen. In ihren leichten Sommerjacketts jedoch waren sie nun der Temperatur so direkt ausgesetzt, dass sie bald imstande waren, die Werte präzise zu schätzen, und auf weiteres Ablesen des mitgeführten Stabthermometers verzichteten. Der rasche Verzehr einer größeren Menge Schokolade hielt sie warm, bis Alfred auf Rationierung bestand.
    Aus Sorge, nachts hinaus auf See getrieben zu werden, entschieden sie, dass jeweils einer von ihnen Wache halten würde. Die Furcht, vom Schlaf übermannt zu werden, erwies sich jedoch insofern als unbegründet, als ihnen das Einschlafen vor Zittern ohnehin kaum gelang.
    Irgendwann drehte die Brise auf Ost, in den frühen Morgenstunden trieben sie sacht aufs Kattegat hinaus. Sie
staunten, wie lange es dauerte, bis die ersten Sonnenstrahlen zu wärmen begannen. Zum Frühstück gab es für jeden das zweite Kotelett, danach dämmerten sie abwechselnd eine Weile vor sich hin. Entlang der dänischen Küste ging es zurück nach Süden, vorbei an Samsø und Fünen. Die Inseln sahen verlockend aus. Sie stiegen auf 2500 Meter, um den Versuchungen menschlicher Zivilisation zu entgehen. Am Nachmittag frischte der Wind auf, sie verzehrten ihre mitgebrachten Apfelsinen.
    Beim Überqueren der Küstenlinie drehte der Kurs gefährlich auf West, so dass sich die Brüder darauf einstellten, ihre Fahrt abzubrechen. Die Sorge, in den Abendstunden hinaus auf die Nordsee zu gelangen, bot einen guten Anlass für ein Ende des Unternehmens. Gerade als sie den Korb zur Landung vorbereiteten, drehte der Wind erneut, und sie flogen weiter nach Süden. Längst hatten sie aufgehört, Ausschau nach ihren Mitbewerbern zu halten.
    Als die Sonne zum zweiten Mal den Horizont berührte, wickelten sie die letzten beiden Riegel Schokolade aus dem Papier. Alfred sagte kauend, er könne sich nicht erinnern, jemals etwas so Köstliches gegessen zu haben. Kurt lutschte wortlos an seinem Stück

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