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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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seit Jahren gültigen Rekord für die längste Ballonfahrt der Welt.
    Und diese beiden Grünschnäbel sollten den angesehensten Luftschiffer Frankreichs nicht nur abgelöst, sondern gedemütigt haben? Seinen Rekord um die Hälfte überboten, geschlagene siebzehn Stunden wollten sie länger unterwegs gewesen sein als die Legende? Kaum jemand schenkte ihnen Glauben.
     
    Abends schrieb Wegener in sein Notizheft: »Die Welt von oben. Es leben wohl bald so viele Menschen auf der Erde, wie jemals gestorben sind. Dem sollte ich weiter nachgehen. «

Der Boden des Atlantischen Ozeans
    Anfang 1906 las er in der Zeitung vom Plan einer dänischen Expedition nach Nordostgrönland, die zwei Sommer lang die Küste kartographieren sollte. Unter der Leitung des Schriftstellers Mylius-Erichsen würden sie versuchen, durchs Eis der Grönlandsee an die Stelle vorzudringen, wo die Germania-Expedition 1870 hatte kehrtmachen müssen, und dort eine Station zu errichten. Von da aus wollte man den unbekannten Abschnitt bis Kap Bridgman erkunden.
    Eine Station im Eis. Was man alles erforschen könnte! Wegener schloss die Augen. Nur mit Mühe gelang es ihm, seine Wünsche zu ordnen. Er befahl sich einen ruhigeren Atem und teilte die Pläne auf, die ihm durch den Kopf schossen. Es würde die meteorologischen Erhebungen geben, die hydrologischen, die erdmagnetischen, die luftelektrischen, die atmosphärischen, für die er sich in besonderer Weise zuständig fühlte. Es gab – wenn man schon einmal vor Ort war – die botanischen, zoologischen und paläontologischen, natürlich kam ihm eine ganze Reihe geologischer Fragen in den Sinn, die zu klären wären, dann das glaziologische Problem, womöglich gab es sogar ethnographische Aufgaben. Er musste ja nicht alles selbst erkunden.
    Das Nächste, was er ordnete, war seine Wäsche. Er würde nicht viel brauchen, er rechnete nicht damit, länger
als zwei Tage zu bleiben. Mit einem Köfferchen brach er am Nachmittag auf, löste am Bahnhof ein Billet und bestieg den Nachtzug nach Kopenhagen. Mylius-Erichsen musste ihn empfangen.
    Am offenen Fenster des Abteils stehend, beugte er sich hinaus, mit zusammengekniffenem Gesicht. Der Abendwind trieb ihm Tränen in die Augen. Warum fühlte sich das Reisen in den Norden an, als stiege man auf in die Luft? Als es draußen dunkel wurde, schloss er das Fenster. In der Glasscheibe sah er sich selbst, mit zerzaustem Haar. Wie alt war er? Ein Vierteljahrhundert. Es war höchste Zeit für eine Tat.
    In Warnemünde rangierten sie auf das neu eingerichtete Trajekt. Sie würden mit der Prinsessin Alexandrine übersetzen, einer eingleisigen Schaufelradfähre, Wegener hatte das weiße Schiff von der Landungsbrücke aus im Wasser liegen sehen. Leider war es nicht gestattet, den Waggon an Bord zu verlassen. Das Schaukeln der Wellen schläferte ihn ein.
    Als er erwachte, waren sie schon in der Anfahrt auf Kopenhagen. Der Hauptbahnhof eine Baustelle, aber an den Gerüsten der eckigen Türme wehte bereits die dänische Flagge. Er stieg aus, mit Hut und seinem kleinen Koffer, es war früher Morgen.
     
    Wie viele Schiffe zwischen den Häusern fuhren. Es ließ sich kaum entscheiden, ob diese Stadt auf Land gebaut war oder auf Wasser. Wegener reichte dem Kutscher einen der eingewechselten Scheine und bekam eine Handvoll seltsamer Münzen zurück. Dann schellte er an der Tür.
    Es war ein Troll, der öffnete. Eine gebückte Gestalt mit pelzigem Körper, Spitzbart und stechenden Augen, die vorsichtig
aus dem dunklen Flur herausspähte, das Haar unter einer Zwergenkappe verborgen. Für einen Moment überlegte Wegener, davonzulaufen, aber mit seinem Koffer war es aussichtslos, dem Geschöpf zu entkommen. Also holte er Luft und sagte seinen Namen.
    »Ich bin auf der Suche nach Herrn Ludvig Mylius-Erichsen. Es geht um dessen Expedition, an der ich als Wissenschaftler aus Deutschland teilzunehmen gedenke.«
    Das Wesen lachte und bat ihn herein, es sprach Deutsch mit einem Akzent, als käme es geradewegs von unter der Erde. Die Tür öffnete sich ganz, dann schlug die Erscheinung ihre Kapuze zurück, streckte ihm die Hand entgegen und stellte sich vor. Es war niemand anderer als der Hausherr selbst. Er entschuldigte sich für sein Habit, Wegener habe ihn just in der Anprobe einiger Mitbringsel von der letzten Reise überrascht, die er bei der anstehenden Expedition einzusetzen gedenke. Ob er einmal fühlen wolle, Seehundfell, ein Oberteil zum Hineinschlüpfen. Wegener strich über

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