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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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mit vor Lust verzerrtem Gesicht. Später begann er, in dem engen Korb auf und ab zu gehen. Ein Schritt vor, ein Schritt zurück, den größten Teil seiner Wanderung verbrachte er mit den Kehren. Beim Zuschauen merkte Alfred, dass er selbst immer wieder die Augen zusammenkniff, obwohl die Sonne mittlerweile längst untergegangen war.
    Sie wussten, dass sie jederzeit hätten landen können. Doch wo sie nun einmal hier oben waren, sahen sie keinen
Anlass, vor dem Erschöpfen ihrer Kräfte auf den Boden zurückzukehren. Nur: Wie konnte man sicher sein, dass die eigenen Kräfte erschöpft waren?
    Die zweite Nacht war vollkommen klar, der Himmel von Sternen übersät. Während seiner Wache beschäftigte sich Alfred damit, Sternbilder zu entwerfen, indem er die einzelnen Punkte auf neue Weise miteinander verband. Obwohl er wusste, dass der Ballon den oberen Himmelsausschnitt verdeckte, glaubte er am Ende, selbst die Himmelskuppel stehe voller Sterne. Und sein Zwinkern wurde nicht besser. Das Selterswasser war längst zur Neige gegangen. Aber die Ballonhülle war nass vom Tau, und auch an den Seilen sammelte sich Feuchtigkeit. Von Zeit zu Zeit raffte Alfred sich auf, um sie abzulecken.
    Dann stand er da, die Brust an den Weidenrand gelehnt, und sah hinunter. Am Boden war es vollkommen dunkel. An eine Landung war nun nicht mehr zu denken. Als sie Hannover erreichten, merkte Alfred, wie tief der nasse Ballon unterdessen flog. Direkt unter sich sah er den Schein der Gaslaternen, fast meinte er, an die Schornsteine zu stoßen. Durch die Kamine zu ihnen herauf leuchtete die Glut der Feuerstellen.
    Nun fiel ihm auch ein, woran ihn der geflochtene Korb erinnerte: an seine Kinderwiege, die auf dem Speicher des Elternhauses darauf wartete, dass etwas mit ihr geschah.
    Bei Göttingen wurde es hell. Über Hannoversch Münden ging die Sonne auf. Nun würde alles wieder gut. Sie entschieden, einen Aufstieg zu versuchen, und ließen sich von der Morgensonne auf dreitausendsiebenhundert Meter heben. Um schneller zu steigen, wollten sie Ballast geben. Allerdings stellte sich heraus, dass sie beide
nicht mehr imstande waren, den Sack über den Rand des Korbes zu stemmen. Bei sechzehn Minusgraden wurde der Schüttelfrost stärker, hinzu traten nun Muskelkrämpfe und vermehrte Ohnmachten.
    Alfred lag in einem Winkel des Korbes, den Kopf auf eines der Bastkörbchen gebettet, als er aus den Augenwinkeln sah, wie Kurt in der gegenüberliegenden Ecke den Finger hob. Er fürchtete schon, sein Bruder wolle noch weiter hinauf. Nach einer Weile erst begriff er, dass Kurt nur die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte. Er hob den Kopf. Kurt zeigte nun mit dem Finger hinunter und sah ihn fragend an. Alfred nickte erneut.
     
    Sie machten alles fertig zur Landung, und Kurt ließ das Schleppseil ab. Der Wind war schärfer geworden. Bald neigte sich der Korb, das Seil lag auf, mit ganzer Kraft stemmte sich Alfred gegen den Rand des Korbes. Dann gab es einen Ruck, und Alfred hielt das abgerissene Tau in der Hand. Sofort zog sein Bruder die Reißbahn, um den Ballon zu leeren. Gerade bevor der Korb aufschlug, sprangen sie hinauf ins Gestänge, Alfred wurde über den Boden geschleift, eine Wiese, Erdballen, Wurzeln, ein Maulwurfshügel, dann ein Feldrain, in dessen Gestrüpp er sich mit den Füßen verfing. So blieb er liegen, die Wange in ein Nest aus Löwenzahn gebettet, sein steifer Halskragen in die Erde gegraben wie eine Pflugschar.
    Als er sich aufrichtete, musste er feststellen, dass es ihm die Stiefel von den Füßen gerissen hatte, aber beide fanden sich wieder, ebenso Hausschlüssel und Hut. Nach einer Weile tauchte auch sein Bruder auf, in Begleitung zweier Feldarbeiter.

    Sie waren bei Laubach im Spessart aufgesetzt, zweiundfünfzig Stunden nach dem Start. Die Nachricht von ihrer Rekordfahrt verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Aus Aschaffenburg kam ein Reporter geritten, auf einem nervösen Schimmel. Wegener saß, an den Korb gelehnt, im Gras, als der Reiter eintraf. Der Mann sprang ab und machte sich an den Aufbau eines Stativs. Sein Pferd kam heran und schnupperte an Wegener wie ein Hund. Er rupfte ein Büschel aus und hielt es dem Tier hin, aber es schnaubte nur und wandte sich ab. Währenddessen schoss der Reporter einige Bilder, die am nächsten Morgen in den Blättern des Umlands erschienen. In den darauffolgenden Tagen berichteten die Zeitungen des In- und Auslandes von dem Ereignis, und alle verwiesen sie auf den Comte de la Vaulx und seinen

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