Alles Land - Roman
Mylius-Erichsens Oberarm, es fühlte sich weich an.
Der Flur und jedes Zimmer, durch das sie im Reden kamen, war mit Bücherregalen gefüllt. Selbst in der Küche, wo sie an einem Tischchen Platz nahmen, stapelten sich Bände auf dem Fensterbrett. Mylius-Erichsen lebte allein. Er war nur wenig älter als Wegener, hier im Licht des Fensters wirkte er nun doch recht menschlich. Nur an den Bart würde man sich gewöhnen müssen. Im Gespräch stellte sich heraus, dass seine besondere Leidenschaft der nördlichen Sagenwelt galt. Seiner Jugend zum Trotz hatte er bereits eine Expedition nach Grönland geleitet. Zwei Jahre lang hatte er die Mythen der Polareskimos erkundet und aufgeschrieben. Er lief und holte die Bilder, die
sie während ihrer Reise angefertigt hatten. Die runden Gesichter mit den müden Augen, als hätten sie schon ganz anderes gesehen als einen frierenden Maler. Mylius-Erichsen hörte gar nicht damit auf, eine Sage nach der anderen nachzuerzählen. Wegener war verblüfft, was man alles erforschen konnte.
Endlich kamen sie doch auf die geplante Reise zurück. Mylius-Erichsen wollte eine Handvoll Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen versammeln und jedem seine Freiheit zum Forschen lassen. Als sie schon an der Tür standen, kam er noch auf das Pekuniäre zu sprechen: Jeder werde die gleiche geringe Heuer beziehen, vom Leiter der Expedition bis zum Heizer. »Denn«, sagte er und schob sich lächelnd die Kapuze zurück über den Kopf, »keiner kann entbehrt werden. Und alle setzen ihr Leben aufs Spiel. Mehr kann ein Mensch nicht geben.«
Hocherfreut kehrte Wegener am nächsten Tag zurück nach Berlin und verkündete den Eltern, er sei eingeladen, gemeinsam mit fünf weiteren Forschern, zwei Premierleutnants, einigen Kartographen und zwei Kunstmalern im Sommer die Reise anzutreten.
Der Vater war entsetzt. Er habe Alfred immer gewähren lassen mit seinen bisweilen eigentümlichen Ideen, jetzt müsse er reden: »Ich wünsche, dass mein Sohn allmählich eine pensionsberechtigte Stellung antritt, statt am Nordpol Gottes Gnade herauszufordern.«
Alfred schwieg. Die Mutter brachte Getränke. Sie stritten den ganzen Nachmittag. Von Zeit zu Zeit wurde neues Quittenbrot gereicht. Manchmal ging die Mutter vor die Tür, um die neuen Geschwister zur Ruhe anzuhalten.
Als es dunkelte, sah der Vater ein, dass Alfred von seinem Vorhaben nicht abzubringen war. Im Flur wünschte er ihm murmelnd Gottes Segen.
Am nächsten Morgen begann Wegener Briefe zu schreiben. In Grönland wollte er mit Drachen und Ballons die Atmosphäre erforschen, nun brauchte er Gerät und Instrumente. Er wandte sich an die infrage kommenden Institute um Überlassung der notwendigen Ausrüstung.
»Indem ich Sie bitte, diese Belästigung meinem lebhaften Wunsche, das aerologische Programm der Expedition zu einem befriedigenden Ende zu führen, zugutehalten zu wollen, bin ich in vorzüglicher Hochachtung Ihr sehr ergebener.« Die Ränder mehrerer Zeitungsseiten füllte er mit seinem Namenszug, bis ihm der Schwung ausreichend weltmännisch erschien. An den Herrn Kriegsminister schrieb er eine Bitte um leihweise Überlassung von zweihundert Stahlflaschen aus den Beständen des Königlichen Luftschifferbataillons zum Transport von Wasserstoff. Die deutsche Südpolarexpedition von 1901 bis 1903 bat er um Übersendung der seinerzeit gekauften Eisbohrer. Er schrieb Adressen, klebte Umschläge, trug sie aufs Amt. Seine Finger rochen nach Tinte.
Wenige Tage später wurde ihm die erste Antwort ausgehändigt, auf dem Poststempel stand Großborstel. Das Schreiben stammte von Professor Köppen, dem Leiter der dortigen Drachenstation. Er lud den sehr verehrten Herrn Doktor Wegener ein, ihm die Ziele seiner Unternehmung in einem Gespräch darzulegen.
Ein erster warmer Frühlingstag, von Hamburg aus nahm Wegener einen Wagen. Er ließ sich neuerdings ein Oberlippenbärtchen stehen, über das er hin und wieder mit dem Finger strich. Der wolkenlose Himmel in der Fondscheibe war so leer, dass auch ein Fachmann nichts herauslesen konnte.
Im Garten des Professors drehten sich die Räder und Fähnchen der Windschreiber. Sie sprachen über die Meteorologie. Von Zeit zu Zeit fuhr Köppen sich durch seinen weißen Bart, und auch die Brauen waren ganz weiß, sie hingen ihm bis vor die Augen. Ihn interessierte insbesondere Wegeners Forschung zu den Wirbelstürmen. Er müsse zugeben, diesen Dingen zeitlebens ausgewichen zu sein.
»Welchen Dingen?«,
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