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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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Notwendige. In einem Boot fanden sich als einziger Proviant drei Kisten Mixed Pickles. Mylius-Erichsen hielt eine Standpauke, während sie nutzlos und
verloren auf der Eisscholle standen wie eine angereiste Schar Pinguine. Er warf seinen Männern Kopflosigkeit vor. Er wünschte ihnen und sich, dass so etwas niemals auf dem Eis geschehe. Er erinnerte sie daran, dass sie nicht zu ihrem Vergnügen hier seien. Sie hätten sich vor der Wissenschaftsgeschichte zu verantworten.
    »Es werden einmal Bücher über uns geschrieben, bedenken Sie das in allem, was Sie tun«, rief er ihnen zu und sah so finster dabei aus, dass Wegener hoffte, es würden keine illustrierten Bücher sein.
    Schweigend ruderten sie zurück zum Schiff, wo sich ihre Laune nicht besserte. Die Hunde waren in Küche und Speisekammer eingebrochen, in den Salon und sogar in den Maschinenraum und hatten entsetzliches Unheil angerichtet. Die Freiwache wurde gestrichen, ein großes Reinemachen begann.
    Nachts lag Wegener in seiner Koje und sah seine Kameraden vor sich, durcheinanderspringend, als stünde Ragnaroek bevor. Man konnte nur hoffen, dass sie den Weltuntergang einmal gelassener antreten würden. Warum hatte ihn die Gefahr so wenig berührt? Gab es eine Sehnsucht nach dem Ende? Wenn überhaupt, hatte ihm die Unordnung zu schaffen gemacht. Kopflosigkeit bereitete ihm Kopfschmerzen, das wusste er bereits.

    Den Ort, an dem sie landeten, tauften sie Danmarkshavn. Er lag in der geschützten Dovebucht, die Schollen drängten sich zuletzt so dicht, dass sie fürchten mussten, den Winter über vom Eis eingeschlossen zu werden.

    Die nächsten Wochen über luden sie aus, errichteten ein Holzhaus, das sie Villa nannten, und nahmen die Instrumente in Betrieb.
    Sie erkundeten die Gegend. Die Bucht lag noch an der Außenküste, direkt beim Kap Bismarck, an dem die deutsche Expedition unter Koldewey hatte aufgeben müssen. Sie wurde durch eine Halbinsel vom offenen Meer getrennt und war umgeben von niedrigen Bergen. Der Boden Urgestein. Sie machten Ausflüge, zu Fuß oder mit den Schlitten, sie fanden versteinertes Holz, Ammoniten in Sandstein, einzelne Eisbären, die sie teils photographierten, teils erlegten. Sie benannten alles, was sie sahen: Sturmbucht, Walrosshalbinsel, Signalberg. Sie legten die Himmelsrichtungen fest.
    Wegener sammelte eine ganze Reihe kleiner, aber wertvoller Erfahrungen: wie man einen gebrochenen Schlitten reparierte (durch geschickte, rücksichtslose Improvisation), wie man am schnellsten die Zugleinen der Hunde klarte, wie man verhinderte, dass die Biester nach dem Halten durcheinanderliefen (man musste sich auf die Riemen stellen, so dass die Hunde ganz kurz angebunden waren).
    Er schalt sich dafür, keine bessere Uhr mitgebracht zu haben, seine eigene hielt der Unbill der Ablesungen im Freien nicht stand, sie ging erst falsch und fiel dann gänzlich aus. Koch bot an, ihm bei Bedarf seinen Taschenchronometer zu leihen, was Wegener annahm, obwohl es ihm gegen den Stolz ging. Ohne Zeitmessung aber war ein Großteil seiner Beobachtungen hinfällig.
    Nach und nach lernte er die Eigenheiten seiner Kameraden kennen, manche davon besser, als ihm lieb war. Freuchens willfähriges Wesen, Thostrups Neigung zu andauernder
Eile, die sich besonders bei Schlittenreisen zeigte: Er wirtschaftete nicht vernünftig mit der Kraft der Hunde, er hatte keinen Hundeverstand.
    Koch dagegen beneidete er um seine Wirksamkeit. Alles, was er tat, war durchdacht. Wenn es um seine Arbeit ging, konnte er rücksichtslos sein, aber auch das bewunderte Wegener. Er hoffte, Selbstständigkeit von ihm zu lernen.
    Ihm war bewusst, dass die anderen ihn wohl längst als Muster von Rührigkeit schätzten, aber er selber sah nur, wie er überall unter seinen Möglichkeiten blieb und welche Ziele er verfehlte.
    Freuchen half ihm beim Auspacken der Ballons, die von der Reise furchtbar verklebt waren. Sobald man sie ausbreitete, liefen die Hunde darüber, und alles war wieder voller Dreck. Sie unternahmen Drachenaufstiege, tausendfünfhundert Meter, zweitausendvierhundert Meter, sie konnten erforschen, wonach immer ihnen der Sinn stand, es war alles neu.
    Nachts hielten sie Wache bei den Schlitten, damit die Hunde nicht immer aufs Neue die Bindungen abfraßen. Mylius-Erichsen hoffte, auf diese Weise die Tagesarbeit auf vierundzwanzig Stunden zu reduzieren. Noch zogen sich die täglichen Reparaturen immer tiefer in den Morgen.
     
    Mit dem Ende des Monats Oktober wurde es schlimm.

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