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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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einfach weil er niemals aufschlagen würde.
    Am Morgen noch immer die berauschende Gewissheit, am rechten Ort zu sein. Wie mitleidig die anderen ihn verabschiedet hatten, ihr sorgenvolles Winken, als er sich auf halber Höhe noch einmal umgewandt hatte. Was hieß schon Einsamkeit, er hatte doch sich selbst. Er zog sich an, dann stand er in der Tür und schaute hinaus ins Nichts. Hier war er richtig.
    Er brauchte lange, um den kleinen Herd in Gang zu setzen und etwas Schnee zu schmelzen. Mit dem heißen Tee setzte er sich an die Holzplatte, die ihm als Tisch dienen würde. Er legte sich einen Bleistift zurecht. Dann stand er auf, holte das Jagdmesser, das Freuchen ihm zum Abschied mitgegeben hatte, und schnitzte so lange an dem Stift herum, bis die Spitze beruhigend perfekt war.
    Was wollte er hier in seiner Pustervig-Station, was wollte er überhaupt vom Leben? Warum hatte der Mensch
das Bedürfnis, etwas Besonderes zu leisten? Es ging ihm nicht um sich selbst.
    Was er wusste: Er hatte die Kraft zum Zweifel, womöglich die stärkste Gabe, die sein Schöpfer ihm mitgegeben hatte, falls es einen solchen gab. Sein Zweifeln hatte das Band zu seinem Vater zerrissen, zu seiner Herkunft, aber es hatte ihn nirgendwo hingestellt. War es Gott, dem er nicht traute? Warum ließ er den Zweifel dann nicht an Gott aus, sondern an den Erscheinungen der Natur?
    Was er suchte, war ein fester Punkt. Er erinnerte sich, wie emsig Kurt früher nach einem Gottesbeweis gesucht hatte. Abend für Abend hatte sein Bruder ihm vorgerechnet, dass es da draußen etwas geben müsse, das anders war als sie selbst. Besser. Und immer hatte Alfred irgendwo einen Fehler gefunden, ohne selbst zu glauben, dass die Sache damit beantwortet war.
    Er beschloss, nicht gleich am ersten Tag solche Fallstricke auszulegen, und stand auf, um in einigem Abstand hinter der Hütte einen Abort auszuheben.
     
    Einrichten, die Instrumente in Betrieb nehmen, dem Hund einen Schlafplatz zuweisen, eine windgeschützte Ecke an der frisch gezimmerten Thermometerhütte. Feststellen, dass der Hund eine Hündin war. Feldmann war eine Frau. Änderte das etwas an ihrem Verhältnis? Den Namen behielt Wegener dennoch bei.
    Er ertappte sich dabei, wie er bei der Arbeit pfiff. Es fehlte ihm nichts. Manchmal pfiff der Wind zurück, dann bliesen sie eine Weile lang zweistimmig, bis einem von ihnen die Puste ausging. Abends saß Feldmann vorm Eingang der Hütte und heulte, und von irgendwoher heulten
Wölfe zurück. Wegener hoffte, sie kämen ihm nicht zu nahe.
    Nachts trat er vor die Tür und traute seinen Augen nicht. Es war tatsächlich, wie die Alten schrieben: Der Himmel brannte. Ein Nordlicht, wie sie es in all der Zeit nicht zu sehen bekommen hatten, von Horizont zu Horizont zog es sich über das Firmament, von innen heraus flimmernd, als erschaffte es sich in jedem Moment neu.
    Wegener lief, um die Kamera zu holen, doch gerade wenn er zu exponieren begann, huschte die Erscheinung in eine andere Himmelsecke, noch ehe sie einen Eindruck auf der Platte hinterlassen hatte. Es war hoffnungslos, überall entschlüpfte die Erscheinung seinen Instrumenten. Wie sollte er hier etwas festhalten? So unstet war das Gebilde, so offensichtlich wollte es ihn zum Narren halten. Feldmann schenkte dem Schauspiel ohnehin keine Beachtung.
    Vor dem Schlafengehen notierte Wegener im Schein der Karbidlampe: »Eine gewaltige Lichtsymphonie spielte in tiefstem, feierlichstem Schweigen über unseren Häuptern, wie um unserer Wissenschaft zu spotten: Kommt doch her und erforscht mich! Sagt mir, was ich bin!«
    Er wusste auch nicht, wen er mit »wir« meinte.
     
    Nachts fiel ihm ein, wann er seinen ersten Photoapparat gesehen hatte, bei einem Sonntagsspaziergang mit der Familie. An der Jungfernbrücke waren sie in eine besonders prächtige Hochzeitsgesellschaft geraten, die mit ihnen hinüberzog zum Schlosspark. Ein Meer aus lachsfarbenem, flamingofarbenem, rhabarberfarbenem Tüll, unterbrochen nur von den schwarzen Streifen der Bratenröcke und Zylinder.

    Im Nu hatten beide Gruppen sich vermengt, viel zu aufregend war den Kindern die strahlende Pracht der Kleider erschienen, viel zu hinreißend der Schar der Brautleute die ungestüme Geschwisterschar – namentlich den zahlreichen Tanten. Schon hatte Kurt es mit einer seiner Geschichten geschafft, die Brautjungfern bis unter ihre Blütenkränze erröten zu lassen, schon hatte die Braut dem jüngsten der Kinder einen Apfel geschenkt. Alfred biss

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