Alles Land - Roman
sie bei jeder Gelegenheit an der Reling und schauten hinaus. Die Schmelzfiguren des Treibeises, vielgestaltig wie Wolken. Dabei so farbenprächtig, dass es Wegener regelrecht bestürzte. Er war überrascht vom Ausmaß dieser Schönheit. Nachts lag ein dünner Nebel über dem Wasser, fahlgelb im Schein der Mitternachtssonne. Morgens begann alles wieder zu leuchten, bis hinunter zu den hellgrünen Eisfüßen unter der Wasserlinie. Unmöglich zu sagen, woher das Licht rührte. Die riesigen, im Wasser schwebenden Brocken, als seien sie immer schon hier gewesen. In ihrem Eis waren alle Farbtöne zu entdecken. Wegener stand da und musste sich an die Reling klammern, so zauberhaft violett war die Scholle gefärbt, an der sie vorüberzogen.
Hätte ihn jemand nach einem Wunsch gefragt, er hätte sich gewünscht, auf jeder dieser Inseln an Land zu gehen. Dort zu bleiben. Es war nur der Wind, der ihm Tränen in die Augen trieb, aber er wischte sie dennoch fort, bevor jemand es sah.
Sie installierten die Kamera, die Ansichten waren einfach zu herrlich. Ihre einzige Sorge war, ob die Abzüge zeigen würden, was sie sahen. Die Kamera machte zeitversetzt drei Bilder, nach jeder Belichtung mussten sie den Gleitrahmen weiterschieben, in dem die Platten steckten. Die erste hinter rotem, die zweite hinter blauem, die letzte hinter grünem Glas. Am Ende kamen drei verschiedene Ansichten heraus, nicht anders als bei ihnen selbst. Auch
sie machten sich Bilder, von denen niemand wusste, wie sie sich zueinander verhielten: Freuchens Eindruck, sein eigener und der der Kamera. Welche Farbe zeigte Wegeners Filter?
Professor Miethe hatte das Verfahren vor wenigen Jahren erst zum Patent angemeldet. Einer mitgelieferten Liste entnahm Wegener die Dauer der Exposition. Für »Gutes Licht im Winter« wurden für die blaue und die grüne Platte jeweils zehn Sekunden Belichtung verlangt, während die rote fünfundzwanzig Sekunden benötigte. Bei voller Fahrt würden sie Sorge tragen müssen, ihre Objekte während der Aufnahmen nicht aus dem Sucher zu verlieren.
Eine ganze Stunde lang photographierten sie wie besessen. Am Ende sagte Freuchen, er sei gespannt, ob sie auf den Abzügen irgendwo den Weihnachtsmann entdecken würden. Immerhin verbringe der in dieser Ecke der Welt den Sommer.
Am Nachmittag desselben Tages gab es Alarm. Ehe Wegener sich versah, stürzten alle mit ihren Siebensachen zu den Booten, die man in aller Hast belud. Wegener packte mit an und wünschte gleichzeitig, dem Treiben Einhalt zu gebieten oder zumindest Einsicht. Jensen stürzte mit freiem Oberkörper aus der Kombüse an die Reling, einen Arm um seinen eindrucksvollen Bauch geklammert, im vergeblichen Versuch, ihn im eiskalten Wind zu wärmen. In der anderen Hand hielt er eine kleine Pfanne. Friis drängte sich an ihm vorbei, eine leere Staffelei unter dem Arm. Der zweite Kartograph Hagerup kauerte orientierungslos an Deck und zitterte. Johannsen und Manniche
kurbelten wie wild an den Auslegern, im Versuch, eines der Rettungsboote zu Wasser zu lassen. Es stand kopfüber in der Luft.
Bevor Wegener ihnen noch zurufen konnte, dass sie in verschiedene Richtungen drehten, war das Boot bereits aus der Verankerung geglitten und stürzte auf das Wasser zu wie eine Seeschwalbe im Angriff. Noch immer ging die Schiffsglocke, doch ihr Klingeln wurde vom Gebell der Hunde fast übertönt. Wegener sah seine Kameraden, die nun die anderen Boote zu Wasser ließen, ihre verzerrten Gesichter, als hätte das kalte Wasser sie bereits erreicht und ließe sie mit einem Schlag gefrieren. Er selbst war zu seiner eigenen Verblüffung gänzlich frei von Angst. Er steckte die Pfeife in die Reverstasche und verließ das Schiff zusammen mit dem Kapitän als Letzter.
Sie ruderten zu einer Eisscholle, kletterten hinauf und zogen die Rettungsboote aus dem Wasser. Dann standen sie an der Kante und schauten hinüber zu ihrem Schiff, das auf wundersame Weise nicht sank. Verlassen lag es im Wasser, seltsam stolz, als hätte es seine Herren nicht nötig. Nach einer Weile meldete Mylius-Erichsen, es habe sich um einen Probealarm gehandelt, sie könnten zurück an Bord.
Niemand sagte ein Wort. Wie wenig Spannung übrig blieb, wenn die Furcht einmal verflog. Vorher aber werde er, fuhr Mylius-Erichsen fort, die mitgebrachte Ausrüstung durchsehen, ihr Aufbruch sei nicht von Umsicht bestimmt gewesen. Er inspizierte die Ladung und scheuchte jeden, der ihm zur Hand gehen wollte, fort.
Es fehlte alles
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