Alles Land - Roman
kleiner Blütenkelche standen auf der spiegelglatten See, dahingestreut wie auf einer Frühlingswiese. Kapitän Trolle hatte von dem Phänomen gehört, ohne es je gesehen zu haben: Die Salzlake des Oberflächenwassers kristallisierte zu feinen, wenige Zentimeter großen Gebilden. Sie drosselten die Fahrt und glitten langsam durch das Spektakel. Seit Tagen war um sie herum immer der Lärm der pumpenden Motoren gewesen, nun blieb es auf einmal still. Soweit das Auge reichte, umgab sie ein Meer strahlend weißer Blumen.
Friis und Bertelsen, die beiden Maler, postierten sich sogleich an der Reling und hielten es fest. Wegener hätte sich gerne angeschlossen, doch ein Blick auf ihre Staffeleien verriet, dass das Zeichnen bei ihnen besser aufgehoben war.
Lange Suche nach der Dreifarbenkamera, die sich endlich unter einem Stapel Säcke fand. Aber zum Photographieren war es noch zu dunkel. Koch fischte mit einem Kescher einige Exemplare der Blumen, schritt die backbords aufgereihte Mannschaft ab und legte jedem eines in die Hand. Die Maler unterbrachen ihre Panoramen, um das empfindliche
Detail zu skizzieren. Lundager schien irgendetwas zu zählen, wahrscheinlich verglich er im Geiste die Anordnung der glitzernden Blütenblätter mit jeder Blume, die er kannte. Wegener leckte an seiner, sie war salzig wie die Tiefsee. Gott musste, als er dieses Stück Flora schuf, rechtschaffen verliebt gewesen sein. Mylius-Erichsen legte sich seine Blüte auf die nackte Hand und sah zu, wie sie langsam schmolz.
Wegener wurde ein Assistent zugeteilt, Peter Freuchen, ein Medizinstudent, blond wie aus einer nördlichen Sage. Als Wegener ihm die Instrumente erklärte, erwiesen sich gleich beim Thermographen die Messergebnisse als unerfreulich. Der Apparat zeichnete jede einzelne Erschütterung des Schiffes auf, an denen ja kein Mangel war. Sie würden ihn hängend lagern müssen. Außerdem galt es, die auf der Thermometerhütte liegenden Trockenfische fortzuräumen, damit sie besser ventiliert wurde. »Wir wollen«, sagte Freuchen zum Zeichen des Verstehens, »schließlich nicht die Temperatur der Fische messen.« Wegener lächelte vorsichtig.
Gemeinsam schritten sie von Instrument zu Instrument, und Wegener unterwies seinen Assistenten in der Kunst des Ablesens. Ruhig, mit der Pfeife in der Hand, ging er die Werte durch, erläuterte Messverfahren, prüfte Plausibilitäten, machte Abschätzungen.
»Man braucht ein Gefühl dafür, ob ein Wert wahrscheinlich ist. Die meisten Menschen glauben den Instrumenten mehr als sich selbst. Man kann es ihnen nicht vorwerfen, sie haben es nicht anders gelernt. In Wirklichkeit aber ist das Ablesen nichts als Interpretation. Ein Kampf zwischen Gerät und Geist.«
Wegener blickte auf und fragte: »Haben Sie ein Mädchen ?«
Freuchen verneinte.
Wegener fuhr fort: »Es ist wie mit den Frauen. Sie beharren auf ihrer Sicht der Welt, aber der Mann wird acht darauf geben, sie unter der Hand zu leiten.«
Freuchen nickte stumm. Wegener nickte ebenfalls.
Er zog an seiner Pfeife. Beide sahen sie vor sich hin, äußerlich unbewegt, dabei war alles in der engen Kabine, die beiden Wissenschaftler, ihre Messgeräte, die ganze Einrichtung, der stetigen Bewegung des Seegangs unterworfen.
»So haben wir es gelernt«, sagte Wegener und nahm einen weiteren Zug. »Und doch«, fuhr er nach einer Weile fort, »müssen wir anerkennen, dass es am Ende womöglich sie sind, die auf unvorhergesehene Weise recht behalten. Wir dürfen die Bereitschaft nicht verlieren, uns von ihnen überraschen zu lassen.«
Freuchen sah nicht so aus, als wüsste er noch, ob Wegener von seinen Instrumenten sprach oder von den Frauen.
Ein Matrose lief an der offenen Tür vorbei, blieb stehen und steckte den Kopf herein. Er fragte, was sie da täten, und zeigte sich insbesondere fasziniert vom Hygrometer. Bald darauf kam auch Unterbootsmann Thostrup, setzte sich zu ihnen und verfolgte gespannt ihr Tun. Es dauerte nicht lange, bis auch der Maschinist und der Zweite Maat hereinschlichen und sich stumm an der Wand aufstellten. Als schließlich selbst Kapitän Trolle zum Kreis der Zuschauer stieß, fragte Wegener ein wenig unwirsch, womit er den Herren dienen könne.
Es stellte sich heraus, dass es im Schiffsjournal eine Rubrik für Feuchtigkeit gab, die noch niemals ausgefüllt
worden war. Fortan wurden die Instrumente in Wegeners Kabine von allen Mannschaftsteilen mehrmals täglich konsultiert.
Auch wenn alle genug zu tun hatten, standen
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