Alles Land - Roman
hinein.
Im selben Augenblick ging das Licht an. Ein Blitz am helllichten Tage, aus heiterem Himmel. Alfred wandte sich um und sah in zwei Münder, weit aufgerissen wie ein Paar riesiger Augen. Es waren der Bräutigam und die Brautmutter. Sie lachten schallend, offenbar fanden sie Gefallen aneinander. Aber worüber lachten sie, und warum war es so hell gewesen?
Alfred schaute weiter herum und entdeckte schließlich hinter sich die Apparatur, das schwarze Tuch, den Stab mit dem Vögelchen und dem Behälter fürs eben gezündete Magnesium, das nun in einer gewaltigen Wolke entschwand.
Als der Rauch verzogen war, tauchte ein glatzköpfiger Mann unter dem Tuch hervor. Alfred hatte in der Schule gelernt, was sich im Inneren der schwarzen Kiste verbarg: das Bild, das er eben gesehen hatte, die nach der Natur kopierte Ansicht eines Paares, ein dunkel gekleideter Herr und seine frischgebackene Schwiegermutter, ihre offenstehenden Münder. Er wusste es, aber er konnte nicht glauben, dass man all das bewahren konnte. Alfred hätte viel darum gegeben, die Photographie zu sehen: Ließ sich die Fröhlichkeit in den Augen der Brautmutter wirklich festhalten?
Er überwand seine Scheu und ging die paar Schritte zu dem Glatzkopf hinüber. Ob er einmal schauen dürfe.
Was er denn schauen wolle.
»Das Bild.«
Der Photograph lachte. »Das gibt es nicht.«
»Aber Sie haben es doch eben erst gemacht. Als die beiden gelacht haben. Es ist dort drin.«
Der Mann schüttelte den Kopf. Mit einer Handbewegung öffnete er das Türchen seiner Apparatur. Eine leere Kammer.
»Wohin ist es verschwunden?«
»Meinst du das hier?« Der Photograph hob seine Hand, in der ein hölzerner Rahmen steckte.
»Lassen Sie mich sehen.« Alfred griff danach, aber der Mann zog den Rahmen fort.
»Das ist kein Bild«, sagte er. »Das ist das Gegenteil.«
»Was soll das sein, das Gegenteil von einem Bild?«
»Es darf kein Licht heran. Sonst verschwindet es.«
»Ist das Bild in dem Rahmen?«
»Nicht mehr als der Honig in einer Wabe. Man muss es herausholen. Würdest du dir einen Bienenstock auf den Frühstückstisch stellen?« Alfred schüttelte den Kopf.
Der Mann hielt ihm den Rahmen hin. »Es sieht nicht anders aus als der Rahmen, den der Imker aus dem Bienenstock zieht. Er schleudert den Honig heraus, ich das Bild.«
Alfred verstand nicht, was der Mann meinte, aber er nahm den Rahmen in die Hand. Es war kein Bild darin zu erkennen. Während er ihn von allen Seiten untersuchte, erklärte ihm der Photograph, wie er später in einer Kammer stehen würde, die ebenso dunkel sei wie das Innere seiner Kamera.
»Und dort holen Sie das alles wieder heraus? Das Lachen der Leute?«
Der Mann lächelte. »So ist es. Oder was immer sich vor der Kamera abgespielt hat. Man hält alles damit fest.«
»Alles? Auch den Wind? Oder die Angst?«
»Nur wenn er sich irgendwo zeigt. Den Wind erkennt man an herumfliegenden Blättern. Woran erkennt man die Angst? «
»Man wird starr.«
»Dann hätte auf meinen Bildern jeder Angst. Die Photographie lässt alle erstarren.«
Das hatte Alfred eingeleuchtet. Möglich wäre es. Vielleicht fürchteten die Menschen, der Photographie nicht wieder zu entkommen.
Je weniger Eindrücke der Tag für ihn bereithielt, desto mehr Zeit verbrachte Wegener mit Erinnerungen an früher. Er dachte an seine Geschwister, an die Winter in Zechlinerhütte (warum war es in seiner Erinnerung dort immer Winter gewesen?), an seine Mutter, die mit den Jahren immer stiller geworden war. Er dachte an Else und ihren Vater. Ob Köppen stolz wäre, ihn hier zu sehen? Er hieß Vladimir, Wegener konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, ihn jemals so zu nennen. Aber wer wusste schon, was nach seiner Rückkehr auf ihn wartete?
Am Hügel hinter der Hütte entdeckte er frische Spuren von Moschusochsen und zog mit Feldmann auf die Jagd. Nach langem Herumstreifen entdeckte er die kleine Herde. Das Schießen genierte die Tiere nicht, ganz ruhig blieben
sie stehen, sahen sich um und brüllten erst, wenn sie eine Kugel bekamen. Sobald er aufstand und sich näherte, nahmen sie im Galopp Reißaus, Schulter an Schulter.
Wegener schoss zwei Jungtiere und die Mutter, auf dem Rückweg außerdem einige Hasen. Die nächsten Tage verbrachte er mit dem Häuten und Zerlegen der Tiere. Er legte Fleischdepots an.
Aus Gewichtsgründen hatte er nur ein einziges Buch mitgenommen, einen Band von Seligenraths vorzüglicher Enzyklopädie, die ursprünglich zum
Weitere Kostenlose Bücher