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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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Stimmungen! Während einer magnetischen Beobachtung ließ Wegener Kochs Taschenchronometer fallen. Der Moment, als ihm das Kästchen aus der Hand glitt und er es in der Luft sah, die Empfindung einer unnatürlichen Gleichzeitigkeit – es war in diesem Augenblick alles schon da, der Schreck, seine Scham, die verzweifelte Gewissheit,
dass es hier draußen unmöglich war, den Schaden wiedergutzumachen. Er sah das alles schon voraus, ohne Einfluss nehmen zu können auf die Entwicklung der Dinge: seine Hand, die nun leer war, dahinter der Chronometer, der noch immer so langsam dem Boden entgegenfiel, als sei er nicht nur aus seiner Hand gefallen, sondern gleich aus der Zeit, die – nicht länger gemessen – sich weigerte zu vergehen. Dann erst erreichte das Instrument den Boden. Wegener stockte einen langen Moment der Atem, schließlich nahm er das Kästchen auf, hockte sich hin und öffnete es von der Rückseite: Die Unruh war gebrochen.
    Wegener war es schrecklich peinlich, vor Koch, aber nicht minder vor der Wissenschaft. Tagelang hatte er einen gehörigen Katzenjammer und war seiner Umgebung ein unleidiger Kamerad.
    Abends heulten Wölfe, aber niemand von ihnen bekam je einen zu Gesicht. Allmählich wurde es kälter.
     
    Wegener nahm die geplante Station am Rande des Inlandeises in Angriff, er plante, sie im Innern des Mörkefjords einzurichten. Er würde allein dorthin gehen und allein dort bleiben, darauf freute er sich.
    In der Villa saßen sie so dicht beieinander, dass der eine sich nicht rühren konnte, ohne den anderen zu genieren. Es war verlockend, mal wieder eine Zeit lang auseinanderzukommen. Wegener sehnte sich nach neuer Gesellschaft, und die eigene schien ihm besonders exklusiv.
    Gemeinsam mit Freuchen machte er sich auf die Suche und fand einen Ort, der ihm geeignet schien, die meteorologischen Besonderheiten der Randlage in hervorragender Weise zu bündeln.

    In zwei längeren Schlittenreisen schafften sie ausreichend Material heran, um eine kleine Hütte zusammenzusetzen, und mit einem weiteren Transport noch Brennstoff und Proviant für die Überwinterung. Die Station nannte Wegener Pustervig. Mylius-Erichsen hatte den Plan ja grundsätzlich gutgeheißen, er würde sich wohl auch mit seiner tatsächlichen Durchführung einverstanden zeigen, wenn er zurückkehrte. Zusammen mit Hagen und dem Grönländer Brönlund war er zu einer Zugschlittenreise in den Norden aufgebrochen, um die letzten unbekannten Stücke der Küste zu kartographieren. Sie hätten längst zurück sein sollen.

Frostübersättigung und Cirren
    Mit einem Hund und einem Schlitten voller Instrumente brach Wegener auf. Den Hund nannte er Feldmann, er war die Sorte Kamerad, die ihm guttat. Nach einem halben Tag erreichten sie den Laxau, an dem Freuchen und er aus Fässern ein Floß gebaut hatten. Wegener hatte nicht bedacht, wie viel Mühe es machte, die Ladung hinaufzubekommen, wenn man allein war. Und kaum lag alles oben, büxte der Hund aus, dem man nicht nachstellen konnte, ohne zu riskieren, dass die Kisten über Bord gingen.
    Von den Grönländern hatten sie nicht nur gelernt, die Hunde zu züchtigen, sondern auch, sie mit scharfen Befehlen zu dirigieren. Hier am Ufer des Laxau schrie Wegener sich die Seele aus dem Leib, aber der Hund blieb ungerührt an Land sitzen, wenige Schritte entfernt. Als all das Schreien nicht half, ging Wegener zum Bitten über, es hörte ihn ja keiner. Er versuchte das Tier mit guten Argumenten zu überzeugen, schließlich flehte er beinahe. Am Ende hatte der Hund ein Einsehen und kam zu ihm auf das schwankende Gefährt, womöglich aus Langeweile.
    Auf der anderen Seite mussten sie noch über einen Höhenzug. In der langen Abfahrt hinunter zum Mörkefjord brach eine Kufe, aber Wegener ließ sich davon nicht
aus der Ruhe bringen. Mit der Pistole schoss er zwei Löcher hinein und band die Teile mit Leder und Keilen zusammen. Bei Dunkelheit erreichte er sein Exil.
     
    Abends ein Spaziergang im Mondschein, der ihm außerordentlich starke Eindrücke verschaffte. Ein Gefühl von Verlassenheit, welches jede Möglichkeit von Trost so vollständig ausschloss, dass nichts zurückblieb als eine klare, glänzende Nüchternheit, von der Wegener nicht wusste, ob sie ihm geheuer war.
    Zurück in der Hütte atmete er auf, als sei er zum ersten Mal in seinem Leben irgendwo angekommen. Eine erste Nacht ohne das geringste Geräusch, einmal wachte er auf und glaubte zu fallen, ohne jedes Bewusstsein einer Gefahr,

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