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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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feucht von der Gischt. Auch wenn es seinem Magen mittlerweile besser ging, war er dankbar, dass er nicht mit den Walflotten hier draußen ausharren musste, auf einem Meer, das keinen Hehl daraus machte, dem Menschen nicht zugeneigt zu sein. Auf der Jagd nach einem Tier, das sich nicht zeigte. Ob die Walfänger nie den Glauben daran verloren, dass es ihre Beute tatsächlich gab? Und: War Lebertran eigentlich an Bord beliebt?
    Wegener rieb sich die Lider, um nicht einzuschlafen. Warum sprach Mylius-Erichsen nicht einfach mit ihm? Wegener fragte ihn nach seiner Zeit bei den Eskimos. Der Däne klopfte neben sich auf den Rand des Rettungsbootes. Wie er dort saß, wölbte sich sein dicker Mantel von all den Schichten übereinandergezogener Kleidung, als hätte der hagere Mann ein Bäuchlein. Wegener setzte sich zu ihm, und Mylius-Erichsen begann mit seiner hohen Stimme,
in dem seltsamen Deutsch, das Wegener schon bei ihrem ersten Treffen auf wunderliche Weise passend zu diesem Mann erschienen war, zu erzählen.
    »Sie leben gut dort, seit Langem. Sie waren schon dort, als die Wikinger kamen, die nichts brachten als Viehzucht und Inzucht. Die Wikinger nannten sie Zwerge und spotteten über sie, aber am Ende haben die Zwerge sie besiegt.«
    Während des Sprechens sah Mylius-Erichsen ihn aus den Augenwinkeln an. In der Dunkelheit sah er aus wie ein Nachfahre der Wikinger.
    Als er fortfuhr, verzog er den Mund: »Es sind freundliche Menschen. Meistens. Man darf nur nicht den Fehler machen, das Schrägstehen der Augen als Lächeln zu deuten.«
    Auch wenn Mylius-Erichsen für einen Moment schwieg, behielt er die Lippen geöffnet. Vor seinem Mund stand eine Atemwolke, als spräche er noch immer und wäre nur nicht länger zu verstehen.
    »Sie haben erstaunlich wenig Angst. Anders wären sie mit den Wikingern gar nicht fertiggeworden. Eigentlich fürchten sie sich ausschließlich davor, die Küstengebiete zu verlassen und hinauf aufs Inlandeis zu gehen. Sie nennen es Sermerssuaq, das große Eis. Ihre Siedlungen liegen direkt darunter, es steht ihnen jederzeit vor Augen. Sie glauben, dass dort die Geister leben. Deren Wohnung darf niemand betreten.«
    Wegener schnäuzte sich, dann bat er darum, eine ihrer Sagen zu hören.
    »Es gibt«, fuhr Mylius-Erichsen fort, »die Geschichte vom Totenschiff. Eine der wenigen Sagen, die sie an der ganzen Küste erzählen, weil es ursprünglich nicht ihre eigene war, die Wikinger haben sie mitgebracht. Man
sitzt beieinander und schaut vor sich hin, irgendwo hockt ein Mütterchen und flickt Stiefel. Man bekommt den Eindruck, Stiefelflicken sei das Einzige, was in ihrem Leben zählt. Und wirklich wird keines dieser Mütterchen einen Gast in ihr Heim lassen, ohne sein Schuhzeug zu prüfen, verbunden mit dem Ratschlag, es immer gut in Schuss zu halten.«
    Mylius-Erichsen sah auf, und Wegener wusste nicht, ob der Blick ihm galt oder seinen Stiefeln. Er hätte gern ihren Zustand geprüft, wagte aber nicht hinunterzusehen.
    »Nach einer Weile erst«, fuhr Mylius-Erichsen fort, »beginnt einer der anderen zu erzählen. Das Totenschiff heißt Naglfar. Der Riese Hrymr wird es steuern, wenn es an der Zeit ist. Am Ende der Tage steht er am Deck, nicht anders als wir hier, und fährt die Reifriesen zum Weltkampf, zur letzten Schlacht. Das ganze Schiff ist aus den Fingernägeln der Toten gemacht. Es ist das größte Schiff und das schönste. Noch ist es nicht fertiggestellt, aber wenn es einmal vollendet ist, beginnt Ragnaroek, der Untergang der Welt. Deshalb schneiden sie jedem, der stirbt, die Nägel. So kurz wie möglich, damit das Schiff weniger schnell wächst. Wenn sie mit ihrer Geschichte am Ende sind, grinsen sie einen an, unsicher oder freundlich, das weiß man nie genau. Seitdem halte ich meine Nägel kurz.«
    Alfred Wegener schaute auf seine Hände. Aber sie steckten ja in den Fausthandschuhen. Er zog die beiden Daumen aus ihren Taschen und fuhr sich damit über die Kuppen der anderen Finger. In der Aufregung vor der Abreise hatte er sie so kurz gekaut, dass das Totenschiff davon nicht wachsen konnte.

    Mylius-Erichsen hörte nicht auf, von der Wahrheit zu sprechen, die jeder Sage innewohne. Wegener schwieg. Er misstraute diesen Dingen. Einmal hatte er seine Mutter beim Einschlafen gefragt, was mit Dornröschen passieren würde, wenn sie tatsächlich in hundert Jahren erwachte. In Wirklichkeit wäre doch keiner ihrer Freunde mehr am Leben.

    Am Morgen entdeckten sie Eisblumen im Meer. Tausende

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