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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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Konsultieren in der Expeditionsbibliothek vorgesehen war. Als dann die Zeit kam, sich einen Begleiter für die Überwinterung zu suchen, war seine Wahl auf das Nachschlagewerk gefallen: Er versprach sich die stärkste Anregung davon. Nur die Entscheidung für einen einzelnen Band forderte ihn heraus, am Ende fiel seine Wahl auf Volumen III, Eins – Gran, um alle Zusammensetzungen mit Eis, Firn und Frost zur Hand zu haben.
    Inzwischen war er mit dem Band durch und vermisste weitere Literatur, namentlich solche, die ihn geistig beschäftigt halten könnte, er hätte sich im Anschluss an die Lektüre gern mit sich selbst darüber ausgetauscht. Hauptsächlich dachte er an Haeckel, Darwin, Chamberlain, Bölsche, Meyers populäre Astronomie, Diesterweg und einiges von Förster. Romane dagegen erschienen ihm nicht geeignet. Was für eine Befriedigung hätte er hier draußen aus der Lektüre eines Romans ziehen sollen? Bei ihrer ersten Begegnung hatte Köppen ihm einen Hang zur Unschärfe unterstellt. Traf dieser Vorwurf nicht in weitaus gesteigertem Maße die Liebhaber schöner Literatur? Romane erschienen ihm, um mit Köppen zu sprechen, ungenügend abgesichert. Im Vergleich zu manchem, was er in Büchern
erlebt hatte, war eine Windhose ein ausgesprochen fassbares Phänomen.
    Unterhaltung fand Wegener dagegen mit der Hündin. Besonders komisch war es, wenn er Feldmann etwas von dem frisch erbeuteten Fleisch hinwarf, die sich darauf stürzte, als gelte es, einen Feind zu vernichten. Wie dick sie geworden war. Wie sie schlang. Als stünde ein ganzes Rudel anderer Hunde hinter ihr, dabei waren sie beide doch weit und breit die einzigen Lebewesen.
     
    Mittags zog Wegener mit Feldmann hinunter ans Wasser, und sie liefen ein Stück am Ufer entlang. Ihm fiel ein, dass manche Hunde es mochten, wenn man ihnen Stöckchen warf, aber war Feldmann ein solcher Hund? Und wo sollte er hier ein Stöckchen hernehmen? An einem Überhang brach Wegener einen Eiszapfen ab, hielt ihn seiner Gefährtin vor die Nase und schleuderte ihn dann hinaus. Feldmann rührte sich nicht von der Stelle.
    Das Wasser des Mörkefjords war ruhig, in regelmäßiger Folge trieben kleine Eisberge vorüber. Wegener fragte sich, welcher Gletscher da so munter kalbte. Er musste irgendwo hinter den Hügeln liegen, zwischen denen der Fjord verschwand. Wegener zeichnete die bläulich schimmernden Inseln mit dem Kohlestift, um ihre vielfältigen Formen zu bewahren, dabei war das Schönste ihre Beweglichkeit, die seinem Bild fehlte. Die Eisberge waren jung und ungestüm und konnten aus dem Nichts einen Purzelbaum schlagen, wie junge Spatzen, die im August in einer Pfütze tollten. Wie weit entfernt der Sommer lag. Als sei jede Möglichkeit von Wärme ausgelöscht von diesem unbarmherzigen Frost.

    Die Kälte. Ihr Ziel war die vollständige Versteinerung der gesamten Natur. Am Reformationstag sah er zum letzten Mal einen Strahl der Sonne. Schon gelang es ihr nicht mehr, sich von den Hügeln im Süden zu lösen, stundenlang kroch sie am Horizont entlang. Am nächsten Morgen erwachte Wegener im Bewusstsein, den heutigen Tag in Dämmerung zu verbringen. Er setzte Wasser auf, um sich einen Apfel aufzutauen.
    Es war sein sechsundzwanzigster Geburtstag.
     
    Er sehnte sich nach Else, die in seiner Vorstellung ein Gegenbild zu dem Dasein hier draußen bildete, ihr aufgeräumtes Wesen, die vom Vater erlernte Neigung zur Präzision. Für sie war die Wissenschaft etwas Selbstverständliches, sie war darin aufgewachsen. Er dagegen hatte sie sich erkämpfen müssen, gegen die Welt seiner Väter, und es half nichts, sich einzureden, das verbinde ihn nun umso fester mit dieser Sphäre. Ihm kam es vor, als bliebe er ein Fremder. Er war ein Gast der Wissenschaft. Else dagegen war hineingeboren, ohne jeden Zweifel.
    In diesen Momenten, wenn er sich seit Stunden auf seinem Lager wälzte, ohne Vorstellung, wie spät es sein mochte, kam es ihm vor, als sei sie tüchtiger als er.
     
    Hatte Wegener anfangs noch Vermutungen darüber angestellt, warum die eingeschränkte Diät seiner Begleiterin den Bauch derart auftrieb, so war der Befund bald unübersehbar. Feldmann war trächtig.
    Wegener polsterte ihre Schlafstatt mit einer Decke aus, so viel Komfort müsste genügen. Ihren gesteigerten Hunger stillte Feldmann mit den durchgefrorenen Exkrementen
aus dem Abort, wo sie sich die besten Stücke sicherte. Fürs Erste hatte sie reichlich.
    Als Feldmann warf, versuchte Wegener, sie mitsamt ihrer

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