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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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Brut in eine Kiste zu bringen, mit Güte und Gewalt, um die ganze Bescherung hineinzutragen. Es gelang ihm nicht. Er hoffte, dass die Jungen von selbst eingehen würden, damit er sie nicht eigenhändig erschlagen musste.
     
    Langsam, aber unaufhörlich wuchsen die Eiskristalle. Selbst die Luft wurde nun träger. Nur das Eis stöhnte, es kündigte die nahende Flut an. Es war ein offener Kampf, tagsüber meinte Wegener, die Hitze seines Willens könnte all das zum Schmelzen bringen, die Firnlandschaften, die weiß glitzernden Kanten der Hügel, die Eisberge selbst. Abends aber spürte er, wie sich die Kälte um seine Hütte zusammenzog, sie rückte näher wie ein Rudel Wölfe, geduldig. Und morgens, wenn es Zeit gewesen wäre für einen neuen Tag, lag er im engen Schlafsack und wartete darauf, dass sich genug Kraft in ihm sammelte, den Tag einzuläuten, den niemand anders ins Leben rufen konnte als er selbst, kein Geräusch, kein menschliches Getümmel, kein einziger Lichtstrahl. Es kam vor, dass er stundenlang dalag und gegen die Zweifel kämpfte, ob es das alles tatsächlich gab. Was würde geschehen, wenn er einfach liegen blieb und diesen Tag nicht geschehen ließ? Hätte dann er über den Tag gesiegt oder der Tag über ihn?

    Ende November nahmen die Niederschläge zu, bei fallendem Barometer. Die Luft nun so angefüllt mit Schnee,
dass der Blick aus dem kleinen Fenster keinen Meter weit reichte. Was eine Schätzung war, es gab ja nichts, das zur Orientierung diente. Ohnehin musste Wegener sich eingestehen, dass die Beschränkung der Sicht den Ausblick kaum veränderte.
    Auf dem Weg zu einer Abendablesung trat er aus der Hütte und sah einfach nichts, buchstäblich nichts. Die Luft ganz mit Neuschnee gefüllt, dabei etwa fünfzehn Meter Wind und rabenschwarze Nacht. Beim Rückweg von den Instrumenten war die Hütte nicht mehr da, er irrte umher, vorwärts und wieder zurück oder in die Richtung, die er für den Rückweg hielt, lief einen Schneewall hinauf, den er nicht kannte, sah ein, dass er auf diese Weise verloren ginge, ja dass er längst verloren war. Unschlüssig, was zu tun wäre, blieb er stehen und beobachtete seine Umgebung längere Zeit. Da sah er direkt vor sich einen Lichtschein durchschimmern. Er stand unmittelbar vor dem verschneiten Fenster seiner Hütte.
    Bevor er am nächsten Morgen zur Ablesung ging, schüttete er ein wenig Kaffeesatz an die verschneite Wand, um sich auf dem Rückweg an dem dunklen Fleck zu orientieren.
     
    Welchen Aufwand es bedeutete, die kleinen Aufgaben zu bewältigen, die Dinge in Ordnung zu halten, das Ausbessern der Kleidung, die Körperpflege, das Reden mit sich selbst, das er unterdessen begonnen hatte, die Wege hinaus. Allein das Aufstehen am Morgen erforderte ein Ausmaß an praktischer Energie, das ihn bisweilen überforderte. Von der moralischen Energie ganz zu schweigen.
    Immer öfter musste er seine Messungen wiederholen, weil er in Gedanken anderswo war. Man hatte genug Zeit,
an dies und das zu denken. Meist verfiel er auf irgendeine Erinnerung an Europa, die er dann längere Zeit traktierte, Gedanken an Else, Berufsfragen und anderes, das sich nur schwer wieder abschütteln ließ.
    Die Thermometerhütte hatte er zur Sicherheit mit den drei Uhren ausgestattet, die ihm seine Kameraden für den Winter mitgegeben hatten, um die exakte Zuordnung der Messungen zu gewährleisten. Ein Federchronograph, eine Taschenuhr und eine kleine Pendelanlage. Anfangs war er erleichtert, wie gleichmäßig die Zeitmesser liefen, er hatte stärkere Abweichungen befürchtet. Als jedoch auch nach Wochen und weiter fallenden Temperaturen nur minimales Nachjustieren nötig war, wurde er misstrauisch. Und wenn die Kälte allen dreien gleichermaßen zusetzte? Eines Morgens, als er müde und verfroren durch den Schnee stapfte, wollten ihm die Uhren weismachen, es sei bereits später Vormittag. Er biss die Zähne zusammen, um nicht fluchen zu müssen, zog sich die Handschuhe aus und regulierte sie alle mit bloßen Händen ein wenig zurück.
     
    Beim Einschlafen glaubte er nun oft einen Ton zu hören, ein Brummen oder ein Pumpen, was ja nicht möglich sein konnte. Waren es die anderen, die ihn holten? Waren es Tiere, aber welche Tiere mochten das sein? Manchmal lief er ans Fenster und stand dann an der Scheibe, ohne irgendetwas zu sehen. Am Ende sagte er sich so lange, es sei der Wind oder eine Art Ohrensausen, bis er einschlief. Später fuhr er mit einem Mal im Schlaf auf, von irgendeinem

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