Alles Land - Roman
Beobachtungen ganz einfach nicht getraut. Dabei war sogar er es gewesen, der als Erster auf die Idee verfallen war, die Südkontinente hätten einmal eine gemeinsame Landmasse gebildet. Nur ihre Bewegung hatte er sich nicht vorstellen können, das Auseinanderdriften in ihre heutige Form. Er behauptete noch immer, es sei einfach eine große Platte gewesen, deren Mitten abgesunken seien, bis sie sich mit dem Wasser füllten, das man heute Ozeane nannte.
Suess und seine Apfelgeschichte. Vor einem halben Jahrhundert hatte er die Behauptung aufgestellt, die Gestalt der Planetenoberfläche von den Gipfeln der Alpen bis hinab in die tiefsten Täler hätte sich durch das allmähliche Einschrumpeln der erkaltenden Erdkruste gebildet. Wie Falten auf der Haut eines Apfels. Wegener grauste es vor dem Bild. Von dieser Frucht würde er niemals essen.
Er strich sich die Haare aus der Stirn und fuhr fort: »Sie können beginnen, wo immer Sie wollen. Nehmen Sie Manati, eine Seekuh. Manati gehört zur Ordnung der Sirenen. Sie erschien am Ende des Eozäns und erwies sich in den folgenden Jahrmillionen als überaus erfolgreich. Es sind einsame Tiere. Nah verschwistert mit dem mehrere Tonnen schweren Borkentier, das seine Entdeckung durch den Menschen nur um wenige Jahre überlebte. Seitdem ist ihr nächster lebender Verwandter der Elefant. Die Oberlippe ist gespalten, jede Hälfte lässt sich unabhängig
bewegen. Manati lebt allein. Tut sie sich einmal mit ihresgleichen zusammen, kommt es kaum zum Aufbau sozialer Bindungen. Im Gegensatz zu Robben, an die sie erinnert, ist es ihr nicht möglich, an Land zu kommen. Die Tiere leben in seichten Küstengewässern, in Brackwasser und Flussmündungen, wo sie langsam vor sich hin treiben, es sind außergewöhnlich schwerfällige Tiere. Warum erzähle ich ihnen davon? Man findet diese Seekühe heute an zwei weit voneinander entfernten Orten der Welt: in Afrika und Südamerika, jeweils an der atlantischen Küste. Ahnen Sie, worauf ich hinauswill? Manati sieht uns an, fragend. Sie stellt uns ein Rätsel. Wir dürfen nicht ruhen, bis es gelöst ist. Es gibt keinen anderen Säuger, der im Verhältnis zu einem solch riesigen Körper ein so winziges Gehirn besitzt. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, wie sie sich über eine Ihrer Landbrücken geschoben haben soll.« Gelächter im Saal, eher spöttisch als fröhlich. »Es freut mich, dass meine Gedanken Ihnen solch ein Vergnügen bereiten.« Aus der ersten Reihe war ein Schnauben zu hören. Kayser natürlich, jetzt fiel Wegener auch ein, woran er ihn noch eher erinnerte als an einen Seehund. Aber es war keine Zeit für Häme.
Aus dem Saal kam ein Zwischenruf: »Sie haben doch niemals afrikanischen Boden betreten!« Wegener erkannte Professor Rettler, der ihm bei der Begrüßung am Morgen seine riesigen Hände entgegengestreckt hatte, mit denen er ein halbes Forscherleben das Mündungsdelta des Kongo umgepflügt hatte. Wegener schlug endgültig die Mappe mit dem vorbereiteten Manuskript zu und kam gleich auf die Diamantlagerstätten Westafrikas zu sprechen und ihre geologischen Ähnlichkeiten mit denen Südamerikas. Er
wusste, dass er auf diesem Feld nicht zu Hause war, und wirklich schlug ihm ein Sturm der Zwischenrufe entgegen, im Durcheinander waren die einzelnen Einwürfe nicht zu verstehen, wahrscheinlich zu seinem Besten. Wegener zog sich auf den Regenwurm zurück, den es beiderseits des Atlantiks gab, er erinnerte die Herren an die Mesosaurusfossilien und stellte die Frage, wo die Überbleibsel dieses uralten Reptils gefunden worden seien. »Sie ahnen es, in Afrika und Südamerika – aber wo dort? In Süßwasserablagerungen ! Mesosaurus war weder in der Lage, eine Landbrücke zu passieren, noch, durch den salzigen Ozean zu schwimmen. Wie ist es ihm dennoch gelungen, sich von Afrika bis nach Südamerika zu bewegen? Gar nicht. Die Kontinente waren es, die sich bewegt haben, er war nur ihr blinder Passagier.« Erneut wischte Wegener sich die Haare aus der Stirn, die nun schweißnass war. »Die Kontraktionstheorie versucht Erdbeben durch das Zusammenziehen des Erdmantels zu erklären. Warum aber erreichen uns die Berichte von Erdbeben aus den immer gleichen Zonen? Warum häufen sie sich an den Rändern der Kontinente? Sie wissen ebenso gut wie ich, dass diese Befunde mit der Theorie der fixen Erdkruste nicht in Deckung zu bringen sind. Nehmen wir dagegen ein Abspalten und Abtreiben der Kontinentalschollen an, erhalten wir endlich ein neues
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