Alles Land - Roman
Enden der Minen, rosa, hellgrün, blau, und das Messer zum Anspitzen, obwohl unterdessen kaum mehr etwas zum Anspitzen übrig geblieben war.
Er schaute die Blätter einzeln durch, knüllte dann eines nach dem anderen zusammen und warf sie in hohem Bogen hinüber zum kalten Kamin. Er traf kein einziges Mal. Die weißen Papierbälle prallten an der Einfassung ab und rollten noch einen Moment über den Küchenboden, bis sie irgendwo liegen blieben. Die besten vier Entwürfe behielt er. In der Werkzeugkiste fanden sich einige Reißnägel und ein Hammer, damit nagelte Wegener seine Bilder an die Wand über dem Kamin, neben die schmiedeeisernen Schürhaken.
Sie zeigten das vorzeitliche Gesicht der Erde. Wegener hatte den Tag damit zugebracht, sich aus steifem Karton Kontinente zu schneiden und die wichtigsten Merkmale darauf zu übertragen: Zugrichtungen der Gletscher, Vorkommen seltener Arten aus Flora und Fauna. Dann hatte er die Stücke auf der Tischfläche hin und her geschoben wie Gläser in einer dieser Séancen, von denen alle Welt
nun sprach. Welche Geister versuchte er zu beschwören? Als die Stücke nicht passen wollten, hatte er sie so lange beschnitten, gerissen und gefalzt, bis sich endlich alles zueinanderfügte: Schleifspuren, Lebensräume, Küsten. Dann hatte er immer wieder den Weg der Kontinente nachvollzogen, wie sie sich teilten, trennten, sich voneinander lösten und forttrieben in ihre heutige Position. Er hatte die Bewegung wiederholt, bis seine Hände sie auswendig wussten, vorwärts und rückwärts, er überwand Strecken, für die die Festländer Jahrmillionen gebraucht hatten, in einem Augenblick.
Dann hatte er die verschiedenen Phasen auf neue Blätter durchgepaust und die Flächen der Kontinente schließlich so weit eingefärbt, wie die Buntstiftstummel es erlaubten. Für den Urkontinent hatte er den rosafarbenen Stift gewählt, weil er gerade zur Hand war. Bildete der Urkontinent auf dem ersten Bild noch ein Ganzes, löste er sich auf den folgenden immer weiter auf, die einzelnen Flächen glitten gemächlich auseinander, ihrer heutigen Position entgegen.
Erst jetzt, als die Bildfolge vor ihm an der Wand hing, fiel ihm auf, dass ihr Verlauf aussah wie eine Blume, deren rosa Blüte sich langsam öffnete. Oder wie ein Teller, der ganz allmählich zerbrach. Nein, wenn er sich recht besann, war es ein Embryo, der auf dem ersten Bild zusammengekrümmt lag und dann fortwährend wuchs, das Köpfchen hob sich, der Fötus streckte Arme und Beine aus und nahm immer mehr Gestalt an. Man durfte sich nur nicht davon verwirren lassen, dass sich Kopf und Glieder allmählich vom Rumpf entfernten. Wegener nahm das letzte Stück rosa Mine und schrieb unter das erste Bild: Alles Land .
Der letzte Brief, den er Vladimir Köppen an diesem Tag auf den Weg brachte, enthielt am Ende einer ganzen Reihe von Nachträgen, Ergänzungen und Anhängen ein letztes Postskriptum : »Sag Else, sie soll den Kopf nicht hängen lassen, ich bin nun mal ein solcher Vagabund.«
Er plante eine neue Reise in den Norden und befürchtete, dass es seiner Verlobten nicht recht war. Dabei unterstützte sie ihn in jeder erdenklichen Weise in den Vorbereitungen – und wirklich war es womöglich nur er selbst, der sich einbildete, ihr falle die Vorstellung schwer, ihn ziehen zu lassen. Er hatte einfach nicht gewagt, sie zu fragen, ob sie es ihm übel nahm, dass er sie allein ließ. Er hätte nichts zu entgegnen gewusst, wenn sie ihn gebeten hätte zu bleiben.
Wieder würde es nach Grönland gehen. Die erste Durchquerung der Insel auf ganzer Breite, nach Nansens kürzerer Passage über das Südende. Ein unerhörtes Unterfangen. Hauptmann Koch, sein ehemaliger Kabinennachbar, bereitete die Reise vor. Sie wollten es in kleinster Besetzung angehen, vier Mann und einige Hunde. Was an Wissenschaft zu tun war, könnte er selbst besorgen. Exners unfreundliches Referat in der Meteorologischen Zeitschrift hatte unterdessen seine Aussichten auf eine eigene Professur zumindest für den Augenblick ohnehin zunichtegemacht. Was hatte er hier, bei den Menschen, zu verlieren?
Außer Else. Aber dann würden sie und er mit dem Heiraten eben noch warten. Sie könnten das gleich nach seiner Rückkehr erledigen, im November 1913.
Vorerst aber schrieb er seiner Verlobten: » Von mir ist wenig Erfreuliches zu berichten. Ich glaube, ich werde nächstens totgehen.« Er überlegte, hinter den letzten Satz ein Rufzeichen zu setzen, aber es erschien ihm doch zu
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