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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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dramatisch. »Am Mittwoch sprach ich frei über Wolkenbildung, was – wenigstens mir – so gefallen hat, dass ich das Ganze tags darauf einer Tippmamsell diktierte. Nächstens folgt ein Vortrag über Luftschifffahrt und einer über unsere Expedition unter Berücksichtigung der Drachenaufstiege, tags darauf dasselbe noch einmal ohne diese Berücksichtigung, dafür mit Farbphotographien, später in Kassel ein Vortrag über Fahrten im Freiballon. Ob ich das alles überlebe?«
    Er kam inzwischen ziemlich weit herum. Wie verblüfft sich die Städte gaben, wenn ein Fremder in ihre Ordnung eindrang. Ein Lumpensammler, ein Korbflechter vor seiner Werkstatt, selbst der Hund, der eben an einer Laterne haltmachte, alle sahen aus wie ertappt, als hätte man sie mitten in einer unziemlichen Handlung aufgestört.
    Wegener hatte sich angewöhnt, von den Bahnhöfen am Stadtrand zu Fuß bis hinein zum Markt zu gehen, wo er Unterkunft nahm. Und während er in Marburg auf seinen kurzen Wegen zum Institut, zum Hörsaal, zur Bibliothek kaum mehr aufsah, nahm er hier alles wahr: die blonden Mähnen der Brauereipferde, die scharfen Schläge ihrer Hufe auf dem Pflaster und den Geruch, den sie hinterließen. Das Klirren einer Elektrischen, wenn sie um die Kurve schoss. Zwei miteinander scherzende Feldjäger in farbenfroher Montur. Den Veteranen, der auf seiner Holztafel um ein Almosen bat.
    Vor jedem Anschlag blieb Wegener stehen und las, wozu da eingeladen wurde. Ein Tanztee, eine Exposition – was
es alles für Möglichkeiten gab, sein Leben zu verbringen. Einmal stieß er auf die Ankündigung eines für den selben Abend annoncierten Referats in den Räumen der Erdgeschichtlichen Vereinigung und bedauerte, nicht teilnehmen zu können. Dann bemerkte er, dass es der Hinweis auf seinen eigenen Vortrag war. Wie fremd ihn sein kleingedruckter Name ansah. Dieser Dr. rer. nat. Wegener, war das wirklich er selber?
    Später saß er in der Unterkunft, räumte seine wenigen Sachen in den Schrank und saß dann eine Weile auf der Kante des Bettes, das Kinn in die Hände gestützt, während neben ihm noch das gute Vortragshemd auf seinem Bügel auslüftete.
    Die Geologische Rundschau druckte in drei aufeinanderfolgenden Heften Wegeners überarbeitete Thesen zum Urkontinent. Sie erregten Aufsehen. Zu seinen heftigsten Gegnern wurden, in dieser Reihenfolge, Soergel, Diener und Semper, alles Geologen. Semper ersuchte im Zentralblatt für Mineralogie, Geologie und Paläontologie »um das Innehalten der nötigen Distanz«. Wegener möge »die Geologie nicht weiter beehren, sondern Fachgebiete aufsuchen, die bisher noch vergaßen, über ihre Tür zu schreiben: O heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd andere an!«

    Zum Abschied lud Wegener seine Verlobte zu einer lange versprochenen Ballonfahrt ein. Sie starteten von den Auwiesen hinter dem Institut. Sobald sie in der Luft waren, begann Else leise zu fiepen vor Glück, es klang wie ein kleines Nagetier. Für einen Moment nahm sie seine
Hand. Wie lange sie diesen Moment herbeigesehnt habe. So standen sie voreinander, Else strahlte ihn an, und keiner von ihnen sprach, bis Wegener einen Blick auf die Karte werfen musste.
    Bei schönem Wetter schwebten sie ruhig nach Norden, zweitausend Meter über Grund. Keine Erschütterung, kein Motorenlärm störten sie hier oben. Nur selten drang einmal Hundegebell aus den Dörfern hinauf in ihr Schweigen – wie eine Erinnerung, eine Täuschung, eine Fata Morgana. Sie standen einfach am Rand des Korbes und schauten über die Brüstung hinaus, als nähmen sie die Parade der Landschaft ab, die ein wohlmeinender Schöpfer vor ihnen ausgebreitet hatte. Wer immer es sein mochte, der solch ein gewaltiges Gemälde getuscht hatte, von einer Palette voll Laub- und Weidengrün, voll Korngelb und Ackerbraun und Licht, Licht, Licht. Und mit einer riesigen Tube Himmelsblau, das zum Zenith hin dunkler zulief, als hätte der Schöpfer des Bildes dort oben einen kleinen Klecks von der Schwärze des Weltenraums hineingemischt. Wegener war froh, seinen Vater nicht mit an Bord zu haben, er wäre jetzt nicht gerne über der Frage nach der Urheberschaft des Ganzen mit ihm aneinandergeraten. Er versuchte einfach weiter das Kunstwerk zu genießen, musste jedoch seine ganze Konzentration zusammennehmen, um die Fragen nach der Ursache dieser Schönheit aus dem goldenen Rahmen zu drängen, der sich vor ihnen öffnete.
    Zumindest Wegener also schaute hinaus. Wann immer er sich jedoch zu

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