Alles Land - Roman
im grönländischen Winter Besitz von ihm ergriffen hatten. Der Eindruck, auseinanderzubrechen. Der fehlende Zusammenhalt.
Nach sechs Stunden ununterbrochener Lektüre stieß er in einem Sammelband, dessen Schriftzug Himmel und Erde ihn gereizt hatte, auf den Aufsatz eines gewissen Doktor Keilhack. Das Referat stammte aus dem vergangenen Jahrhundert, aber das galt für ihn selbst ja auch. Es ging um Pflanzen beiderseits des Atlantiks. Daran hielt er sich fest.
In dieser Nacht fand Wegener keinen Schlaf. Und wenn seine grönländischen Fieberbilder doch eine Verbindung zur echten Welt besaßen? Das Reißen, das Treiben?
Es war noch immer dunkel, als er beschloss, dass an Nachtruhe nicht mehr zu denken sei. Er goss sich ein Glas Wein ein und legte die Pfeife zurecht. Dann griff er nach einem Bogen Papier und begann einen Brief nach Hamburg, ohne Anrede, ohne zu wissen, ob sein Schreiben an Köppen gerichtet war oder an seine Verlobte. »Hast Du«, schrieb er, »Dich jemals erstaunt über die Kongruenz der atlantischen Küsten?« Er entzündete seine Pfeife. »Nicht allein der große rechtwinklige Knick, den die brasilianische Küste bei Kap San Roque erfährt, findet sein getreues Negativ in dem afrikanischen Küstenknick bei Kamerun, sondern auch südlich dieser beiden Punkte entspricht jedem Vorsprung auf brasilianischer Seite eine gleich geformte Bucht auf afrikanischer, und umgekehrt jeder Bucht auf brasilianischer ein Vorsprung auf afrikanischer
Seite. Wie ein Versuch mit dem Zirkel am Globus lehrt, stimmen die Größen genau.«
»Warum«, schrieb Wegener, gab sich erneut Feuer und fuhr fort, »gibt es Gewächse, deren Vorkommen an gegenüberliegenden Küsten eines Ozeans belegt ist, sonst aber nirgendwo auf dem ganzen Erdball?« Er nahm einen Schluck. »Was ist mit dem urzeitlichen Regenwurm, dessen Fossilien man beiderseits des Atlantiks findet, und nur dort?« Wie sollte er erklären, was sich in ihm bewegte? »Sicherlich, es könnten die Landbrücken sein, die jeder vermutet. Aber ich kann dieser Theorie keinen Glauben schenken, nur weil sie als die vorherrschende gilt. Es ist ein so hergeholter Gedanke.« Er durfte sich jetzt nicht in Kleinigkeiten verrennen. »Ich habe heute den vollen Tag zwischen Bücherregalen verbracht, was für sich genommen keine Besonderheit darstellt.« Er kniff die Lider zusammen. Ihm war bewusst, dass es nun darum ging, seine Gedanken zu bündeln, andernfalls drohten sie ihm zu entgleiten. »Aber selbst der freundlichen Aufseherin wurde es nachgerade unheimlich, dass ich unablässig die Abteilungen wechselte. Ich bin heute«, er nahm einen weiteren Schluck, »meinem angestammten Felde, der Meteorologie, untreu geworden und habe gewildert in den Beständen der Paläontologie, der Glaziologie, der Botanik, der Zoologie und namentlich der Geologie. Die Belege finden sich überall.«
Wegener knöpfte sein Hemd auf, ihm war unerträglich warm geworden. »Ich hätte es nicht ertragen, den ganzen Tag am Tisch zu hocken«, schrieb er, »ohne die fortdauernde Gewöhnung im langen grönländischen Winter, in dem ich nichts tat, als in meiner engen Stube zu sitzen. Aber das tut«, er fuhr sich mit der Hand über die Stirn,
»hier nichts zur Sache.« Er füllte sich das Glas aufs Neue, er hätte endlos weitertrinken können. »Warum«, schrieb er, »sind die Erdbeben nicht gleichmäßig über die Erde verteilt? Warum häufen sie sich an den Rändern der Kontinente? « Er schrieb: »Warum weisen von den großen Gletschern hinterlassene Schrammen diesseits und jenseits des Ozeans in die gleiche Richtung?« Er klopfte seine Pfeife aus, die längst leer war. »Schon Bacon hat die Ähnlichkeit der Küstenformen bemerkt, das ist dreihundert Jahre her, aber er hat nichts daraus geschlossen.« Er machte einen Absatz und setzte dann hinzu: »Selbst Humboldt ist es aufgefallen. « Und nach einer Pause: »Ich muss es wissen, mein Urgroßonkel war mit ihm befreundet.« Er wollte einen weiteren Schluck nehmen, aber die Flasche war bereits leer. Er schrieb: »Es geht gar nicht anders.« Am Fuß des Blattes notierte er: »Diese Ideen möchte ich weiter verfolgen.« Er schaute eine Weile aus dem Fenster, das gänzlich schwarz war. Dann ergänzte er den letzten Satz: »Vielleicht ist es auch gerade andersherum, und sie verfolgen mich.«
Endlich zerriss er die Blätter und legte sich schlafen. Vor Tagesanbruch erwachte er und las weiter in den Bänden, die er sich mitgenommen hatte. Als die
Weitere Kostenlose Bücher