Alles Land - Roman
leichter ist als Wasser. Sie werden sich fragen, warum ich mit einem Reisebericht beginne und was er mit dem Gegenstand meiner Ausführung zu tun hat. Ich will es Ihnen sagen. Das zu Ende gegangene Jahrhundert hat uns gelehrt, dass Kontinente zum großen Teil aus granitischem Material bestehen. Eduard Suess selbst war es, der ihm den Namen Sial gab, wir haben ihn noch heute Vormittag für sein Tun gewürdigt. Dieses Sial aber ist leichter als die vorwiegend basaltischen Böden der Ozeane, deren Material wir mit Suess als Sima bezeichnen. Sosehr ich Suess schätze, an dieser Stelle hat er seine Idee nicht bis an ihr Ende gedacht. Denn was geschieht, wenn leichteres Material auf schwererem zu liegen kommt? Der Eisberg hat es vorgemacht: Es schwimmt. Was daraus folgt, kann gar nicht für maßgeblich genug erachtet werden: Die von vielen hier im Raum geschätzte Untergangstheorie wird
sich nicht länger halten lassen, aus dem einfachen Grunde, dass eine gedachte Landbrücke niemals in einem schwereren Boden versinken kann.«
Es gab verschiedene Zwischenrufe, denen Wegener keine Aufmerksamkeit schenkte. Er hatte sich zu sehr in Rage geredet.
»Nehmen Sie das skandinavische Beispiel. Seit dem Ende der letzten Eiszeit ziehen sich die Inlandgletscher zurück und befreien das Land von ihrem Gewicht. Was geschieht nun? Wenn Sie sich dort nur lange genug an ein Meeresufer stellen, können Sie zusehen, wie die Küstenlinien fallen. Die schweren Eismassen haben das Land tief in den basaltischen Untergrund gedrückt, aus dem es sich nach der Befreiung von diesem Alb allmählich ganz von selbst erhebt, unaufhaltsam, wie eine Wahrheit, deren Zeit gekommen ist.«
Wegener mochte nicht vom Fach sein. Aber er fühlte, dass er von seinen Vorfahren die Kunst des Predigens geerbt hatte. Wer sich von dieser Argumentation nicht überzeugen ließe, war für die Wissenschaft ohnehin verloren. Was wohl sein Vater gesagt hätte, wenn er ihn so hätte reden hören. Wäre es ihm ketzerisch erschienen? Doch als Wegener aufsah, wurde ihm klar, dass seine Predigt nicht verfing. Die Kluft zwischen dem Auditorium und ihm war so unüberwindbar wie der weiteste Ozean. Und es gab keine Landbrücke, die ihre Küsten verband.
Von ganz hinten rief eine dünne Stimme: »Was hätte Suess dazu zu sagen?« Es klang wie ein ängstliches Kind. Eduard Suess war soeben in Abwesenheit zum Ehrenvorsitzenden der Vereinigung gewählt worden. Sein Kernsatz stand in Marmor gemeißelt über dem Eingang zum Saal:
Der Zusammenbruch des Erdballs ist es, dem wir beiwohnen. Wegener verehrte ihn seiner offenkundigen Fehler zum Trotz. Bei Suess hatte er zum ersten Mal vom Glossopteris gelesen, dem Farn, der im Perm die Festländer überwuchert hatte. Heute fanden sich die steinernen Abdrücke auf allen südlichen Kontinenten. Wie sollten sie sich so weit verbreitet haben, wenn unveränderliche Ozeane sie trennten? Das Marburger Institut führte eine der Versteinerungen in seiner mineralogischen Sammlung: Die rötliche Maserung, die Zungenform, das Geflecht ihrer Nerven erinnerten viel eher an eine Feder als an ein Blatt. Wegener hatte davorgestanden wie vor dem Gipsabdruck einer griechischen Statue: Es war alles da, die Kopie genügte ihm, um die Idee des Originals zu begreifen. Er hatte, als er dort im Ausstellungsraum zwischen den Vitrinen stand, die Augen geschlossen und auf einmal Wälder von diesen Farnen gesehen, durch deren Blätter in langsamen Wellen ein vorzeitlicher Wind strich, von dem sich nicht mehr sagen ließ, ob er warm war oder kalt.
Auch die Toten von Pompeji hatten Hohlräume im erhärteten Gestein hinterlassen. Man hatte Abdrücke von ihnen genommen wie von antiken Plastiken. Vor Jahren war Wegener einmal auf Bildtafeln der Gipsgestalten gestoßen, ihre vom Todeskampf verzerrten Gesichter und der Frieden im Ausdruck der Schlafenden. Es war so leicht, sich das alles vor Augen zu führen, wenn man nur hinsah. Es blieb nichts zu tun, als das vorliegende Material so miteinander zu verschränken, dass sich die einzelnen Beobachtungen zu einem Ganzen verbanden. Zu einem riesigen Puzzle der Welt. Es lag ja alles offen dar, er hatte es in wenigen Wochen versammelt. Sollte man weiter die
Augen vor der Wahrheit verschließen, nur weil der Schlaf so viel Wonne versprach?
Doch auch Suess hing noch immer dem Fixismus an, nicht anders als jeder Einzelne hier im Saal. Der Vorstellung einer ortsfesten Welt. Der große Mann der Geologie hatte seinen eigenen
Weitere Kostenlose Bücher