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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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Bibliothek am Morgen öffnete, stand er schon vor der Tür und sah so verloren aus, dass die junge Frau, die ihm aufgesperrt hatte, einen Hagebuttentee an seinen Platz brachte, obwohl die Einnahme von Speisen und Getränken im Lesesaal für gewöhnlich nicht gestattet war. Sie hieß Gertrud, und Wegener freundete sich in den nächsten Wochen fast ein wenig mit ihr an.

    Das Raunen im Senckenbergischen Museum war unterdessen endlich abgeklungen. Wegener nahm die Hand wieder vom Mund, holte tief Luft und sprach es aus: »Für dieses eine und einzige Prinzip kommt nichts anderes infrage als die horizontale Bewegung der Kontinentalschollen.«
    Es war heraus. Es war erst der zweite Satz, den er bei diesem Vortrag sprach, aber schon kehrte das Raunen zurück, wurde zum Grummeln und steigerte sich endlich zu einem veritablen Rumoren. Die Zuhörer sprachen mit ihren Nachbarn, jemand rief etwas, manche schlugen sich aufs Knie vor Lachen.
    Für Wegener war die erste Hürde genommen. Wäre es nach diesem Satz still geblieben, hätte er etwas falsch gemacht. Es hätte nichts anderes bedeutet, als dass sie ihn eines Raunens nicht für würdig erachteten. Genau dafür hatte er den Satz immer wieder geübt, am Morgen beim Rasieren, auf dem Weg ins Institut und nachts, geflüstert, wenn er sich in seinen Kissen wälzte.
    Was er in diesem Satz behauptete, war nichts weniger als ein Umsturz aller Gedankengebäude. Und das von ihm, einem Wetterkundler und Polarreisenden. Er erwartete nicht, dass sie ihm aus der Hand fraßen. Respekt aber durfte er verlangen.
    Direkt vor sich erkannte Wegener den Ersten Vorsitzenden der Vereinigung, Emanuel Kayser. Er hatte sich immer gefragt, woran ihn der Alte mit seiner Hasenscharte erinnerte, auf einmal fiel es ihm ein: an einen Seehund. Um genau zu sein: an einen sterbenden Seehund. Der weiße Backenbart fiel müde zu den Seiten ab. Seine schwarze Mütze lag ihm im Schoß, er hatte die Hände darüber gefaltet. Er sah traurig aus. Wegener kannte Kayser aus
Marburg, wo er Formationskunde lehrte, sein Steckenpferd waren böhmische Fossilien. Wegener hatte seinen Abriss der Geologie gelesen, ohne nennenswerten Gewinn. Er schätzte den Kollegen fachlich nicht, war ihm aber dankbar für die Einladung. Was immer Kayser sich durch den Vortrag für seine neu gegründete Vereinigung erhofft hatte, dies war es nicht. Ein solcher Eklat während der Tagung war ihm ganz offensichtlich unwillkommen, aber es sah auch nicht danach aus, als hätte er vor, sich in einen Streit einzumischen.
    Neben Kayser saß ein Herr, der abfällige Grunzlaute von sich gab. Es dauerte einen Moment, bis Wegener in ihm den eigens aus der Schweiz angereisten Albert Heim erkannte, die Koryphäe der Erdkruste, den lebenden Vertreter der Untergangstheorie. Sollte sie untergehen, und Heim mit ihr.
    Noch immer glaubten sie, die Arten hätten sich über schmale Stege verbreitet, die einmal die Kontinente verbanden. In die Ecke getrieben durch die Funde verwandter Fossilien in den unterschiedlichsten Gegenden der Welt, hatten sie die Existenz von Landbrücken postuliert und triumphierend auf die Landenge von Panama verwiesen, die noch immer die beiden Amerikas zusammenhielt. So weit, so gut. Wo aber waren diese Verbindungsstücke geblieben ? Sie seien nach vollzogenem Austausch der Arten stillschweigend versunken. Eine absurde Vorstellung.
    »Ich weiß nicht«, hob Wegener zu seinem eigentlichen Vortrag an, »wer von den verehrten Anwesenden einmal das Vergnügen hatte, einen schwimmenden Eisberg zu sehen.« Er hob den Kopf. Niemand rührte sich. Also fuhr er fort: »Die Gelegenheit einer kartographischen Expedition
führte mich vor einigen Jahren nach Grönland, wo ich Zeuge wurde, wie ein solches Ungetüm von seinem Schelfeissockel abbrach. Wer nicht dabei war, kann sich, meine Herren, das Schauspiel kaum ausmalen, das mit dem Kalben eines Gletschers einhergeht. Das Krachen beim Reißen des Eises, den Lärm, wenn ein solcher Brocken ins Wasser fällt, dass die Fontänen in alle Richtungen spritzen. Ich bitte Sie, sich das Leuchten des aufbrechenden Eises vorzustellen, das ganz hellblau schimmert, zart wie ein Neugeborenes, das eben das Licht der Welt erblickt.«
    Vielleicht holte er zu weit aus. Die ersten Zischer waren zu hören und nur scheinbar unterdrücktes Hüsteln.
    »Was geschieht nun mit diesem Koloss? Wird er im Wasser versinken? Natürlich nicht, Sie wissen es so gut wie ich. Und warum? Auch das ist uns bekannt: Weil das Eis

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