Alles Land - Roman
beim Sturz womöglich doch Schaden genommen und könnte bei weiterem Nachdenken ganz versagen.
Er streckte die Hand aus, um zumindest eine ungefähre Temperatur dieser Eistiefe zu nehmen, kam aber auf kein Ergebnis. Nach einer Weile stellte er fest, dass er dazu erst den Handschuh ausziehen musste. Aber auch die nackten Finger halfen nicht weiter, mittlerweile waren sie ganz
fühllos geworden. So folgte aus diesem Einfall nur die anregende Herausforderung, sich einige Minuten lang zurück in den Handschuh kämpfen zu müssen.
Immerhin gewöhnten sich seine Augen an das Dämmerlicht. Auf Höhe seines Knies hatte sich ein Schmelzloch gebildet, wohl durch herabtropfendes Wasser vom Rand der Spalte. Wegener genoss es, in aller Ruhe dessen Form zu studieren, offenbar hatte es noch nicht durch Verdampfung gelitten. Auf dem Grund des Schmelzlochs lag bereits erster Staub, der erstaunliche Muster zeigte. Was sich daran alles ablesen ließe, wenn man nur genauer darüber nachsann. Wegener versuchte sich das Bild einzuprägen, für eine kleinere Veröffentlichung. Auch kleinere Veröffentlichungen dienten dem Ganzen. Es bedurfte nur noch eines präzisen Titels. Eine Formulierung, die das Einmalige der Auffindung vor Augen führte, ohne deshalb gleich närrisch zu klingen. Ein Jammer, dass ihm momentan ausschließlich närrische Titel durch den Kopf schossen.
Erst als Wegener feststellte, dass sich das Muster bei jedem Blinzeln veränderte wie ein immer aufs Neue geschütteltes Kaleidoskop, verlegte er sich aufs nackte Warten. Er war wohl doch angegriffener als angenommen.
Das Nichtstun allerdings brachte den Nachteil mit sich, dass es erheblichen Raum ließ für die Empfindung von Kälte. Und die Kälte trug in ihrem Gepäck die Angst. Beides war Wegener gleichermaßen unwillkommen.
Er schüttelte sich. So würde es nicht gehen. Er musste sich am Leben halten, er musste warm bleiben, er durfte den Mut nicht verlieren. Er hatte seiner Braut versprochen, auf sich achtzugeben. Dahinter konnte er nicht zurück.
Nur fiel ihm beim besten Willen nichts ein, was er hier unten anstellen könnte, um sich zu retten. Er verwarf die Möglichkeit zu beten. Am Ende führte jede seiner Überlegungen zu dem Plan, so rasch als möglich ein denkbar großes Feuer zu entzünden. Doch mitten in den Jubel über seinen Einfall kam er jedes Mal darauf, dass das Schmelzwasser des Eises die Flammen ja bald löschen würde. Wegener war zu schwach, um entscheiden zu können, ob er stolz sein sollte, auf diesen Einwand verfallen zu sein, oder verzweifelt. Womöglich war seine bereits sinkende Körpertemperatur schuld, die ihm befahl, alle verbliebene Kraft auf das zu konzentrieren, was es nun zu tun gab: Frieren, Zittern, Atmen.
Da fiel ihm, solcherart reduziert aufs tierische Überleben, doch noch eine Möglichkeit ein, sich warm zu halten. Er rief sich die Vorstellungen in Erinnerung, die ihm in der Hütte am Pustervig so gute Dienste geleistet hatten. Er schloss die Augen, und nach und nach füllte sich sein Eisversteck mit Bildern von Frauen, manche davon glaubte er sogar wiederzuerkennen nach all der Zeit. Anfangs meinte er ihnen die Kälte noch anzusehen, gegen die sie alles andere als geschützt waren. Dann konzentrierte er sich ganz darauf, auf so vielfältige Arten ihre Bekanntschaft zu machen, wie es ihm in Gedanken möglich war.
Währenddessen näherten sich die Retter dem Abhang, der sich in das Aufstiegstal fortsetzte. Von Weitem schon rief Koch, damit Wegener hörte, dass sie kamen, und sich nicht aufgab. Hallo und wieder hallo, ein ums andere Mal, und als die markierte Stelle endlich zu sehen war, fuhr er seinem Begleiter voraus und rief weiter Hallo, immer nur das
eine Wort, aber es kam keine Antwort. Erst als er das Ende der Fußspuren schon fast erreicht hatte, drang auf einmal ein Geräusch aus der Tiefe, das er nicht recht einordnen konnte, ein Grunzen oder Schnauben, und für einen Moment glaubte Koch, es könne tatsächlich von einer der sagenhaften Gestalten stammen, die die Grönländer auf dem Inlandeis vermuteten.
Kochs Gesicht tauchte über Wegener auf wie eine Erscheinung, erst jetzt hörte er auch die Rufe. Selten hatte er sich so gefreut, einen Menschen zu sehen. Von hier unten sah Koch mit seinem blonden Bart aus wie ein Wikinger. Auf seine Frage antwortete Wegener, wobei er seiner Stimme so viel Kraft wie möglich zu geben versuchte : Jawohl, er sei am Leben. Womöglich habe er sich nur die Füße ein wenig
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