Alles Land - Roman
verstaucht. Jedenfalls sei er nicht erfroren.
Im Ausschnitt der Spalte kam Vigfus’ Gesicht dazu, er fierte die Strickleiter hinunter, zusammen mit einer Taschenlampe.
Den größten Teil der Strecke schaffte Wegener aus eigener Kraft, erst kurz vor dem Rand drohten ihn die Kräfte zu verlassen. Die beiden reichten ihm ein Seil und zogen ihn das letzte Stück hinauf.
Koch sah besorgt aus. Wegener fragte, was ihn so bestürze, also beschrieb Koch ihm, was er sah, das Grau seines Gesichts und wie sich von einer Stirnwunde getrocknetes Blut darüber zog. Er zeigte ihm, wo es in den Kragen lief, aber als Wegener den Kopf drehen wollte, um sich den Schlamassel anzuschauen, hielt ihn der Schmerz davon ab. Zudem kämpfte er immerzu mit einer Ohnmacht.
Sie führten ihn zu dem Schlitten, mit dem Larsen unterdessen eingetroffen war. An den Rücktransport zum Lager behielt Wegener keine Erinnerung.
Erst Gloë gelang es, ihn für einen Moment zurück ins Bewusstsein zu holen. Aus Freude über die Rückkehr seiner Herren bellte er so durchdringend, dass Wegener noch einmal aus der Versenkung erwachte. Dann verfiel er für den Rest des Tages und die ganze folgende Nacht in einen fiebrigen Dämmer.
Den nächsten Vormittag verbrachten die drei Unverletzten damit, den Pferden einen Stall im Eis zu bauen. Es war unvermeidlich, einige Lagertage einzulegen. Der Unterbau bestand aus einer Vertiefung im Gletscher, der Oberbau aus leeren Proviantkisten, einige Pferdedecken bildeten das Dach. Koch brachte Wegener seinen Tee ins Zelt und berichtete dabei, die Tiere besäßen sogar eine ins Eis gehauene Krippe, so dass sie frisches Wasser knabbern könnten, wann immer ihnen danach sei.
Die Untersuchung ergab, dass Wegeners Verletzungen bei Lichte besehen überschaubar waren. Die Prellungen wechselten täglich aufs Schönste ihre Farbe. Wie Nordlichter, scherzte Koch beim Waschen. Jeden Morgen erschienen die Kameraden zur Visite und gaben Wetten ab, welche Färbung heute zu erwarten war.
Der Finger wurde mit einem Zelthering geschient. Koch meinte, dass wahrscheinlich auch die Fußknochen einige Haarrisse davongetragen hätten, was sicherlich schmerzhaft bleibe und Folgeschäden wahrscheinlich mache. Da
sich der Schaden aber weder verifizieren noch behandeln ließ, beschlossen sie, dass man ihn für den Moment ebenso gut außer Acht lassen konnte.
Während der nächsten Tage führte Wegener die Existenz eines Räuberhauptmanns. Nur beim Kochen und anderen häuslichen Arbeiten konnte er sich nützlich machen. Auf diesen Gebieten aber leistete er einiges, auch wenn die anderen seine Kreation »Vereinzelte Ölsardine in Brotsuppe« mit keiner Silbe kommentierten. Zum Frühstück gab es letztes Seehundfleisch. Ansonsten lag er viel und sah an die Zeltdecke. Wie sich das Licht darauf veränderte. Manchmal lag Gloë bei ihm, und sie wärmten sich gegenseitig.
Weil ohnehin nichts anderes für ihn zu tun blieb, hütete Wegener die Wissenschaft. Er las Suess. Der Alte versuchte tatsächlich eine Erklärung für die Sintflut zu finden. Als gäbe es in der Naturforschung keine drängendere Frage, musste jede Theorie nun auch noch in Einklang mit der Bibel gebracht werden. Wegener kamen die Bilder seines Vortrags im Senckenbergischen Museum in den Sinn, wie der Respekt vor dem abwesenden Ehrenvorsitzenden in dem Zwischenruf gipfelte: »Was hätte Suess dazu zu sagen?« Keine schöne Erinnerung.
Er wusste von den Auseinandersetzungen mit seinem Vater, dass es keine Früchte trug, der Kirche Zugeständnisse zu machen. Was half dem Gläubigen ein Beweis der Sintflut? Das Treiben der Wissenschaftler wurde dadurch nicht gottgefälliger.
Suess versuchte es dennoch. Die abwegigeren Passagen in seiner Argumentation markierte Wegener durch einen
senkrechten Strich am Blattrand. Die überaus abwegigen durch einen Doppelstrich. Suess hielt die biblische Flut für eine tragische Verknüpfung zweier Unglücksfälle im Süden des Persischen Golfs, wo sich die Zerstörungskräfte eines Seebebens und eines Tropensturms summiert hätten. Seiner Meinung nach spülte die Welle die Mannschaften seetüchtiger Boote bis in die Bergländer des Euphrat. Wegener malte sich aus, wie sie die Schiffe verließen, leicht schwankend, Hand in Hand, in Zweierreihen, wie die Kinder. Für die Tiere an Bord der Arche blieb Suess dagegen eine Antwort schuldig.
Das Aufbrechen der Brunnen der großen Tiefe im siebten Buch Mose führte Suess auf das bekannte Phänomen von
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