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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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bestimmten. Nachts träumte Wegener davon, wie der schmale Schatten sich um den Stab drehte, ihren einzigen Wegweiser, allmählich erst, dann immer schneller.

    Die Kälte war enorm.
    Anfang Juni versagte der Rote. Vigfus und Larsen schirrten ihn aus und spannten sich vor seinen Schlitten. Das Pferd stapfte unbeeindruckt neben ihnen her.
    Noch war Grauni im Besitz seiner normalen Kräfte, aber je mehr Gepäck er übernahm, desto unwahrscheinlicher wurde es, dass er durchkam. Schon jetzt bewältigte er den Löwenanteil der Arbeit.
    Auch Wegeners Tabakvorräte gingen zur Neige.
    Die gute Nachricht: Seit der Mittagspause stieg das Barometer. Anderswo hätte die Nachricht einfach Freude über eine bevorstehende Wetterbesserung ausgelöst. Für sie aber lag eine süßere Botschaft darin. Weil sich am Wetter kaum etwas ändern würde – zwanzig, dreißig Grad Kälte, zwölf Meter Wind, Schneefegen, nicht gerade das, was man einen idyllischen Sommer nannte, aber zumindest stabil –, konnte der steigende Luftdruck nur bedeuten, dass sie bergab liefen.
    Sie waren über den Rücken des Eispanzers gekrochen. Die Neuigkeit versetzte alle in einen Taumel der Erleichterung, Vigfus warf Schnee in die Luft, ein kaltes Feuerwerk. Selbst Gloë sprang um sie herum und kläffte vor Freude.
    Beim Aufbruch erntete Koch Gelächter, als er die vollkommen eben vor ihnen liegende Fläche als Westhang bezeichnete. Sie müssten ihn nur noch hinunterrutschen. Tatsächlich wurde der Schnee hier weicher. An einem ihrer zur Schonung der Tiere regelmäßig eingelegten Rasttage erinnerte sich Koch, dass die Pferde bei ihm daheim für Märsche im Moor breite Schuhe untergeschlagen bekamen. Solche bastelten sie nun für Grauni und den Roten. Die Dame hatte es nach einer der Pausen nicht weitergeschafft.

    Wegener rauchte seine letzte Pfeife.
    Für die Möglichkeit einer allerletzten allerdings hatte er wohlweislich gesorgt, indem er seit ihrem Aufbruch die unverbrannten Reste der ausgerauchten Pfeife sammelte. Man wurde sparsam, wenn man es so weit zum Kaufmann hatte.
    Zu ihrem Kummer fiel das Barometer doch wieder, was bedeutete, dass sie noch immer stiegen, auch wenn die Oberfläche des Schnees gänzlich eben wirkte.
     
    Als Wegener an einem Morgen Mitte Juni vors Zelt trat, entdeckte er einen weißen Regenbogen. Dass alles hier weiß sein musste, das Land, die Tiere im Winterpelz, ihre Gesichter im Schneetreiben. Abends erschoss er den Roten, es gab kein Futter mehr für ihn. Gloë, der das Pferd seit einer Weile schon mit hungrigem Blick zu betrachten schien, jubilierte.
    Am Morgen gruben sie ein Loch, um die Temperatur der Firnschichten zu messen. Bis zu einer Tiefe von drei Metern wurde es kälter, darunter stieg die Temperatur allmählich wieder an. Was hatte das zu bedeuten? Wegener fühlte sich an seine Entdeckungen der Schichtgrenzen in der Atmosphäre erinnert. Larsen wollte weiter, aber Wegener gebot ihm zu schweigen. Am liebsten hätte er immer weiter gegraben.
    Sie arbeiteten sich bis in sieben Meter Tiefe hinab. Koch fror so sehr an den Füßen, dass er am Boden des Loches kleine Tänzchen aufführte. Vom Rand der Grube sah es aus wie ein barocker Totentanz. Die Messungen brachten keine weiteren Überraschungen.

    Sie zogen nun zusammen mit Grauni das ganze Gepäck.
    Noch immer stiegen sie auf, ihre neue Seehöhe betrug 2937 Meter. Es wäre leichter gewesen, sie hätten sich zwischendurch nicht eingeredet, es gehe von nun an bergab. Manchmal kam der Wind von der Seite, dann wurde Segel gesetzt, und Grauni rannte wie ein Bürstenbinder. Es war eine Freude, ihn so zu sehen. Allerdings stürzte dabei wiederholt der Schlitten um.
    Graunis linkes Auge erkrankte, er war wohl schneeblind. Die wechselnde Farbe des Eiters stellte sie jeden Morgen vor neue Rätsel. Wenn er nur aushielt. Zu ziehen hatte er unterdessen fast gar nichts mehr, da alle mithalfen. Selbst der Wind schob nun beständig.
    Auch Gloë litt an Schneeblindheit, tagsüber musste man immerzu Ausschau halten, um ihn nicht zu verlieren. Abends lief er im Zickzack zwischen Schlitten und Zelt, dass es sie dauerte. Wegener bedeckte die Augen des Hundes nachts mit seiner Hand, um sie gegen die kalte Brise zu schützen, die durch das Zelt strich. Wie rissig die Haut seiner Hände geworden war.
     
    Ende Juni wurde der Schnee härter, und sie konnten Grauni von seinen Schuhen befreien, was ihm vorübergehende Erleichterung verschaffte. Bald aber hatte sich der Effekt erschöpft, und

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