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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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Grauni brachte kaum mehr die Kraft auf, sich vorwärtszuschleppen. Am Nachmittag schon war er nahe daran zu stürzen, so dass sie aufgaben und Zelt schlugen, ohne die in Aussicht genommene Strecke bewältigt zu haben.
    Ein weiterer Rasttag wurde nötig, um Graunis Zusammenbruch hinauszuzögern. Am nächsten Tag schafften sie
wieder erfreuliche fünfundzwanzig Kilometer. Zuletzt aber warf sich Grauni einfach in den Schnee und ließ sich mit allem guten Zureden nicht dazu bewegen, wieder aufzustehen. Sie mussten das Zelt aufbauen.
    Sie ließen nun nach jedem Halt einiges Gepäck zurück, das ihnen entbehrlich erschien. Wie vieles auf einmal entbehrlich erschien.
     
    Am Folgetag lief Grauni hinter dem Schlitten, sie hatten ihn an den rückseitigen Streben angeleint. Manchmal warf er sich ohne Vorankündigung zu Boden, wie ein Anker, der ihr Schiff in voller Fahrt stoppte. Meist war es Wegener, der dann zu dem Pferd hinging, einfach weil er am nächsten bei ihm lief. Er redete ihm gut zu, was manchmal half und manchmal nicht, es war keine Ursache zu erkennen.
    Wenn es nicht half, bestimmten sie einfach eine Weile lang ihre Position, nahmen eine Sonnenhöhe, maßen die Helligkeit des Himmels im Zenith. Auf diese Weise wurde die Pausenfrage, die bisweilen Anlass zum Disput gegeben hatte, von Grauni reguliert. Irgendwann war er bereit für einen neuen Aufbruch, und sie zogen weiter.
    Es waren nur noch hundert Kilometer bis zum Depot. Mit Gottes Hilfe würden sie es finden.
     
    Sie erfanden eine neue Form der Fortbewegung: Vigfus und Larsen packten Grauni auf den Schlitten und banden ihn dort fest, dann zogen sie gemeinsam. Es war nur eine Probe, mit stärkerem Wind im Rücken jedoch könnte es sich im Notfall zu einer tatsächlichen Möglichkeit auswachsen. An diesem Tag blies es nicht genug, so dass sie ihren Gefährten nach wenigen Kilometern wieder losbanden. Ohnehin
war Gloë das ganze Stück über bellend um den Schlitten herumgetanzt, aus Eifersucht oder Verwirrung über diese Umkehrung der Gewohnheiten.
    An diesem Tag bewältigte Grauni den Rest der Strecke ohne Aufbegehren, ja er wirkte ganz erleichtert, wieder auf den Beinen zu sein.
    Wenn er nur weiter so aushielt, könnten sie in drei Tagesmärschen das Notdepot erreichen. So lange würde das Futter wohl reichen, wenn sie ihm mit Brot, Erbsmehl und Fleischschokolade aus ihrem eigenen Proviant aushalfen.
     
    Inzwischen hatten sie sich angewöhnt, nach einer Strecke von etwa siebzehn Kilometern eine dreistündige Pause mit Zelt einzulegen und dann in der zweiten Hälfte der Nacht weiterzugehen. Manchmal einigten sie sich nach einigem Disput zwischen Wegener und Koch auch darauf, im Anschluss an die Morgenetappe definitiv Zelt zu schlagen und erst zu Beginn der Nacht erneut aufzubrechen. In den letzten Tagen hatten sie zur Bewältigung der Tagesstrecke etwas mehr als vierundzwanzig Stunden gebraucht, so dass sich ihr Aufbruch immer weiter verschob. Einmal rechnete Koch eine Länge aus, nach der sie nur noch dreiundsechzig Kilometer vom Depot entfernt waren. Dabei gab es keine Spur von Land, und Wegener maß noch immer eine Seehöhe von fast zweitausendzweihundert Metern. Wie sollte das zusammengehen?
    Sie durften sich von solchen Fragen nicht verwirren lassen. Und wenn Wegener abends vorm Zelt stand, wusste er auch, dass er über ihren Differenzen nicht das gute Einvernehmen mit Koch aufs Spiel setzen durfte. Bisweilen neigte er dazu.

    Wo immer sie auch genau sein mochten: Ohne Grauni wären sie die verbleibende Strecke zum Depot wohl in einem Tagesmarsch hinuntergerutscht.
    Ihre Gespräche drehten sich nun mehrheitlich um die Frage, ob ihre Längenberechnungen zutrafen. Immer wieder stellten sie Fehlerabschätzungen an, maßen erneut, korrigierten einander. Wenn man einmal zu denken begann, was alles falsch sein könnte, kam man rasch in Teufels Küche. Überhaupt dachte Wegener wiederholt darüber nach, ob eine Figur wie der Teufel an dieser Welt nicht seine helle Freude hätte. Bislang hatte er sich die Hölle in Übereinstimmung mit der Überlieferung als heißen, engen, dunklen Ort gedacht. Der Frost, die Grenzenlosigkeit, die blendende Helle erschütterten diese Vorstellung. Wobei die nächtliche Kälte unterdessen einen überraschenden Gegenspieler bekam: An manchen Nachmittagen heizte die Sonne ihr Zelt mittlerweile so auf, dass es der abendländischen Vorstellung eines Purgatoriums beängstigend nahekam. Dass die hiesige Natur doch niemals maßhalten

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