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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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Kinn vollständig verbrannt.
Hätte er diesen Menschen an einem anderen Ort getroffen, er wäre ihm mit einigem Misstrauen begegnet.
     
    Das Zusammensinken oder besser der Zusammenbruch des Firns unter ihnen war nun zu einem alltäglichen Ereignis geworden. Längst war es kein Seufzer mehr, sondern vielmehr ein Rumoren, ein Brüllen. Ein Donner, der sich noch eine Weile forttrug, ehe er in dem großen, leeren Raum, in dem sie hier lebten, verhallte. Alle wussten, dass sie selbst es waren, die die Erscheinung auslösten, durch das Gewicht ihrer Karawane. Gleichzeitig aber klang es, als versuchte sich weit unter ihnen ein Berserker von seinen Ketten zu lösen. Wegener dachte: De profundis. Es sind die Kontinente, die sich tief unter uns aus ihrer menschengemachten Gefangenschaft befreien.
    Die Pferde hatten sich an den Lärm bereits gewöhnt. Nur Gloë bekam jedes Mal aufs Neue einen Todesschreck, rannte in seiner Verzweiflung auf die Skier oder den Pferden zwischen die Beine. Um sich zu retten, sprang er auf einen der Schlitten und kam einmal sogar vor die Kufen. Er war nun mal kein Held. Vielleicht, dachte Wegener, war er der Einzige von ihnen, der das Ausmaß ihrer Lage in aller Schärfe erfasste.
    Von Tag zu Tag sahen die Pferde schlechter aus. Morgens, wenn seine Kameraden sich mühsam aus dem Schlaf herauswanden, ging Wegener als Erstes zu ihnen, klopfte ihnen den Treibschnee ab und sprach ein wenig mit ihnen. Waren das wieder diese Selbstgespräche, die er von Pustervig kannte? Nicht, solange die Pferde ihm Gehör schenkten, und so flüsterte Wegener ihnen direkt in die spitz aufgerichteten Ohren.

    Sie verminderten die Last des Roten auf Kosten der Dame. Auch mittags wurde nun stark gefüttert. Der Rote kam auf diese Weise besser durch den Nachmittag, während es der Dame immer häufiger zu viel wurde. Also spannten sich Vigfus und Wegener selber vor, auf Skiern, was ein wenig zu helfen schien. Trotzdem blieb die Schwäche der Tiere bestehen. Die Seehöhe steckte ihnen in den Gliedern.
    Einige Tage lang versuchten sie es auf diese Weise und mussten sich dann eingestehen, dass sie den Pferden einfach zu viel abverlangten, mittlerweile zogen die drei ja noch das Gepäck ihrer toten Gefährten.
    Man hätte viel stärker füttern müssen. Stattdessen wurden vom Mitziehen nur die Menschen schneller müde, erst recht in dieser Höhe.
     
    Sie begannen nun systematische Messungen der Schneetemperatur bis zu einigen Metern Tiefe durchzuführen, um nicht die Moral zu verlieren. Es mochte sein, dass jemand aus den Ergebnissen Schlüsse würde ziehen können: über das hiesige Jahresmittel der Temperatur, über ihren Zustand. Während sie an der Oberfläche etwa fünfundzwanzig Grad maßen, wuchs die Kälte bereits in der Tiefe einer durchschnittlichen Grabstätte auf dreißig Grad.
     
    Wenn es Zeit zum Schlafen wurde, stand Wegener noch vor dem Zelt, während seine Kameraden sich im Inneren fertig zur Nacht machten. Er versuchte dem Himmel Gesetzmäßigkeiten zu entlocken, die einen der plötzlichen Wetterumschwünge ankündigten, aber jede Regel, die er fand, galt nur für den einen Moment, in dem er sie aufstellte.
Am Ende sah er einfach nur dem allmählichen Sinken der Sonne zu, bis diese sich in ihrer Nachthöhe eingerichtet hatte, dicht über dem Horizont.
    Es war ihm unverständlich, wo seine Bilder von Else geblieben sein mochten. Er vermisste beides gleichermaßen, die Bilder und Else selbst.

    Dann gab es neue Kraft, woher auch immer. Ein Rasttag stärkte namentlich die Dame und ließ sie am Folgetag ihre Strecke von zweiundzwanzig Kilometern ohne Anzeichen von Schwäche ertragen. Die Pferde bekamen nun doppeltes Futter, zehn Pfund Heu pro Gaul, dazu vier bis sechs Pfund Kraftfutter. Mehr vertrugen sie ohnehin nicht, ohne Durchfall zu bekommen.
    Daher wurde ein Teil ihres Kraftfutters als Menschenproviant eingesetzt. Die Männer aßen es, ohne mit der Wimper zu zucken. Waren sie bislang nach jeder Mahlzeit hungrig aufgestanden, barsten sie fast von der neuen Fülle. Sie aßen im Wissen, jedes verspeiste Gramm am nächsten Tag nicht weiter ziehen zu müssen.
    Sie liefen nach der Sonne, die Abweichung des Kompasses fiel hier im Norden zu stark ins Gewicht, außerdem war seine Alkoholfüllung jeden Morgen aufs Neue gefroren.
    Koch entwarf eine kleine Azimuthtafel, mit deren Hilfe sie anhand des Schattens ihrer Skistöcke in jeder der fünfminütigen Marschpausen die Kursrichtung für die nächste halbe Stunde

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