Alles Land - Roman
Er fragte sich, warum man ihn dort, im Mutterland seines Ruhms, nicht haben wollte.
Da traf ein Schreiben des österreichischen Bundesministeriums für Unterricht ein. Man stellte ihm eine Position in Graz in Aussicht, die frischgebackene Republik sammelte Kräfte aus dem Nachbarland. Wegener setzte sich an seinen Schreibtisch, wählte zur Feier des Tages die grüne Tinte und zeigte sich grundsätzlich gern bereit, der Frage einer Professur näherzutreten. Nur habe er gewisse Bedenken, da er sich nicht imstande sehe, eine weitere
außerordentliche Professur anzunehmen. Außerordentlich sei in seinem Leben bereits zu vieles gewesen.
Auch mit Else wollte die Sache besprochen sein. Am nächsten Abend, als einmal alle Töchter zugleich schliefen, brachte Wegener das Gespräch auf den Brief. Else sagte, da müsse sie sich erst einmal setzen, und merkte gar nicht, dass sie längst saß. Wegener erhob sich, um ihr einen der dünnen Tees zu bereiten, die sie abends gerne trank, aber Else winkte ab. Nach einer Weile fragte sie, wo denn dieses Graz genau liege.
Gemeinsam beugten sie sich über den alten Atlas, den Wegener von seinem Vater geerbt hatte. Für eine grobe Orientierung mochte er genügen.
Else fürchtete die Entfernung zu ihren Eltern, Wegener sprach von der Schönheit der Berge, worauf sie ihn ängstlich ansah. »Müssen wir da immerzu hinauf?« Wie weit denn das Mittelmeer sei. Wegener nickte, gleich um die Ecke. Else sorgte sich, ob man sie dort unten verstehen werde, mit ihrem norddeutschen Einschlag. In Marburg war sie anfangs manchmal belächelt worden. Wegener konnte seine Frau beruhigen, im Vergleich zu der Art, wie in Graz gesprochen werde, falle ihre hanseatische Färbung nicht ins Gewicht.
»Aber wir sind doch immer gut ausgekommen.«
Wegener wandte ein, dass sie zu fünft nun eigentlich über ihre Verhältnisse lebten. Und wer über seine Verhältnisse lebe, könne sein Leben ändern oder die Verhältnisse. Was ihr da lieber sei?
Else sah ihn ganz erschrocken an. »Du klingst ja schon wie ein Spartakist!« Und ohnehin: Die Eltern könne sie wohl kaum dort oben zurücklassen. Und sei das für ihn
denn wirklich eine bessere Position als hier? So drehten sie sich im Kreise. Es war fast Mitternacht, als Wegener einfiel, wie alle Seiten glücklich zu stimmen wären.
Ende April trat er die Stelle an, zunächst allein. Er hatte so lange weitere Briefe geschrieben, bis schließlich die gute Nachricht eintraf, man gestehe ihm eine ordentliche Professur zu, verbunden mit um sechs Vorrückungsbeträge erhöhten Anfangsbezügen, unter Anrechnung von achtzehn Dienstjahren in einfacher Zählung. Was immer das genau bedeuten mochte, Wegener hatte zufrieden das Fass mit der grünen Tinte zugeschraubt.
Gertrud, die Mitarbeiterin im Lesesaal der Marburger Bibliothek, hatte ihm zum Abschied eine Stickerei überreicht: Denn alles Land, es ist wie Eis. Er befestigte das Tuch mit zwei Reißnägeln an der Wand hinter seinem neuen Schreibtisch.
Im Herbst zog die Familie hinterher, das Haus in der Blumengasse, in dessen dunklen, hallenden Räumen Wegener einige Monate lang allein gesessen hatte, füllte sich. Es war Teil der neu gebauten Bachmannkolonie und lag fußläufig zur Universität, bei Regen konnte er an der Reiterkaserne die Straßenbahn besteigen.
Else fremdelte anfangs ein wenig. Ihre zunehmende Sehschwäche erschwerte ihr die Orientierung. Aber die Töchter eroberten das neue Reich mit Geheul, die Wände ihrer Stube waren mit einem Efeumuster überzogen. Und sie konnten direkt in den Garten laufen, wo es sich herrlich spielen ließ.
Neben dem Schlafzimmer der Eltern und einem Kabinett gab es im ersten Stock das Arbeitszimmer für den Herrn Professor, in dem sich bereits die Papiere stapelten. Dort oben lag auch die kleine Haushaltskammer, die Else sich ausbedungen hatte.
Und dann gab es ein weiteres Zimmer, das erst im November bezogen wurde. Mutter Köppen stieg vorsichtig aus dem Wagen und blieb erst einmal lange im Rinnstein stehen. Ihre rote Haube hatte sie tief ins Gesicht gezogen und lugte misstrauisch darunter hervor. Vladimir dagegen stapfte mit großen Schritten durchs Haus, jede Tür ließ er offen stehend hinter sich. Selbst Else musste zugeben, dass ihr Vater um Jahrzehnte verjüngt erschien.
Und die Berge! Bereits in der ersten Grazer Woche stellte Wegener seine Töchter im Wohnzimmer auf Ski und übte mit ihnen den Schneepflug. Während sie in tiefer Hocke verharrten, sagte er
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