Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
Vom Netzwerk:
ihnen langsam die Stationen ihrer Abfahrt vor: von der Höhe des Schöckls in zahlreichen Schwüngen den Anger abwärts. In einer weiten Rechtskurve hinüber zum Kalvarienberg. Im Schuss über eine holprige Piste und endlich durch die Rastleiten-Schneise zum Bachufer, von wo sie in ruhigem Tempo (»Schneller, Vater, schneller! «) durch das schöne Tälchen ganz hinunter nach Sankt Radegund glitten. Noch ganz außer Atem wischten die Mädchen sich die Augen trocken. Sie hatten rote Wangen bekommen von der Abfahrt.
    Auch Marie Köppen war spätestens beim Ernten der ersten Stachelbeeren in ihrer neuen Heimat angekommen. Bei Tisch verlangten die Kinder bald ganz selbstverständlich Topfen und Schlag zu ihren Früchten. Selbst ein Goldfisch
hatte den Umzug unbeschadet überstanden, manchen Nachmittag verbrachte Hilde vor seinem Glas, und im Gespräch scherzte Vladimir schon einmal, sie werde mit ihrer Beharrlichkeit doch nicht nach ihrem Vater schlagen.
    Marie fand bald Anschluss an einen Literaturzirkel, in dem die Gattinnen des universitären Lehrkörpers einander die herzergreifendsten Romane der Saison vortrugen. Beim Abendbrot fasste sie ausführlich die Handlungsstränge zusammen und berichtete von den Reaktionen der anderen Damen. Die dickliche Witwe eines Wirtschaftswissenschaftlers pflege bereits während der ersten Sätze einzuschlafen, vergesse aber niemals, zuvor ihren Nachbarinnen die längst legendäre Bitte zuzuflüstern: »Wecken Sie mich, wenn sie sich küssen.«
    Bis auf diese wenigen Ausflüge war die Schwiegermutter jederzeit im Haus. Wann immer Wegener ins Wohnzimmer trat, stets saß die Alte da und sah vom Stickrahmen auf, schnäuzte sich und fragte, wie das Wetter sei: »Ich muss meine Rabatten noch schneiden!«
    Auch Else gefiel die Lebensart der Menschen in der Steiermark, sie nannte sie mittelmeerisch. Sie träumte von einer Reise nach Italien, das ja in Rufweite lag. Sie stellte sich vor, dass die Sonne ihren Augen guttun würde, die Trübung wurde leider nicht weniger. Wegener vertröstete sie, erst einmal wolle die Bergwelt entdeckt werden, was Else bekümmerte. Die schneebedeckten Gipfel ringsherum schienen ihr geradezu das Gegenteil des versprochenen Mittelmeeres zu verkörpern.

    Für Wegener dagegen war Graz ein Desaster. Nicht äußerlich, nicht so, dass er es an irgendeiner Einzelheit hätte belegen können. Genau genommen änderte sich in seinem Leben sogar wenig. Aber vielleicht war es gerade das, was ihm bereits nach wenigen Wochen zuzusetzen begann. Das bestürzende Ausbleiben einer Wendung zum Besseren. Wegener empfand es als Unbill, als Beleidigung. Und das Ausmaß der Zumutung wurde mit dem weiteren Fortschreiten der Zeit nur immer unübersehbarer, Wegeners Lebenskummer schwoll an mit jeder Woche, die ereignislos verstrich. Mit jedem Kalenderblatt, das er in seinem Arbeitszimmer umblätterte – es war ein Exemplar der örtlichen Apotheke und verband Monat für Monat die Abbildung eines weiteren Alpengipfels mit dem freundlichen Hinweis, dass auch der Betrachter mithilfe der richtigen Remedur bald wieder auf der Höhe sei –, wuchs seine Einsicht in die Ausweglosigkeit. Sein ganzes Dasein kränkte ihn.
    Wegener musste sich eingestehen, in Graz auf eine entscheidende Veränderung im Fortgang seines Lebens gehofft zu haben. Er hatte sich gewünscht, durch das Prädikat einer ordentlichen Professur eine Haltung zu entwickeln, die ihm erlaubte, fester aufzutreten. Er hatte sich Würde gewünscht, ein wenig Stolz, und er hatte gehofft, dass ihm dies von außen zugetragen wurde. Nun spürte er, dass eine solche Haltung von innen heraus wachsen musste. Dort aber war nichts zu finden.
    Stattdessen blieben die Zweifel, durchaus nicht nur an sich selbst, sondern ebenso an der Menschheit an sich. Am Ende des Tages lief es ohnehin aufs Gleiche hinaus, weil er zu seinem Leidwesen nun einmal Teil dieser Menschheit war. Darin eben bestand ja sein Jammer.

    Und noch eine zweite Hoffnung, die Wegener sich vom Leben in Graz gemacht hatte, erwies sich als trügerisch. Es war sein Ziel gewesen, mit Köppen zusammenzuleben, den Austausch mit ihm jederzeit verfügbar zu haben, die Anregung. Nun aber stellte sich heraus, dass Köppen von Nahem auch nur ein Mensch war, ein weiterer Mensch.
    Köppen wollte Austausch und Anregung, was für ihn bedeutete: Gespräche bis in die Nacht, über gemeinsame Bekannte, über heutige Klimazonen und ihre Auswirkungen auf die Botanik, über Vegetation. Wegener

Weitere Kostenlose Bücher