Alles Land - Roman
von einem Heimweh erfüllt, das kein Ziel kannte.
Im Eingang klopfte er seinen Mantel ab und hängte ihn auf. Dann setzte er sich mit einem Glas Wasser an seinen Arbeitstisch und hatte schon wieder einen ganzen Nachmittag nichts gearbeitet, nichts geschrieben, nichts entdeckt, das große Ganze nicht vorangebracht. Er hasste sich für seine fehlende Konzentration, für die lähmende Müdigkeit, die ihn nun tagelang umgab und ihn behinderte wie ein Schleier. Aber jeder Versuch, die Erschöpfung zu bekämpfen, das Gespinst zu zerreißen, ermüdete ihn nur umso stärker.
Nachts lag er neben Else und wagte nicht zu atmen. Sie berührten einander nicht mehr. Nie wusste man, wie viele Töchter zwischen ihnen lagen, eine nach der anderen kam im Laufe der Nacht herüber und klagte über die Hitze, die Kälte, einen schlechten Traum. Dann lagen die kleinen Leiber da und stießen einem im Schlaf ein Knie oder einen Ellenbogen in die Seite. Man konnte nichts anderes tun, als sich tot zu stellen.
Im Bett, in den Momenten vor dem Einschlafen, schossen ihm jetzt manchmal Bilder von Eichhörnchen in den Kopf, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Wie sie im Gottesdienst hinter der letzten Bank gehockt hatten, ihr kleines Gesicht dicht vor seinem. Später das Wiedersehen
in der Tanzstunde, als es ihm die Sprache verschlug. Was wohl aus ihr geworden war. Hätte er sich irgendwann auf die Suche nach ihr machen sollen? Aber an welcher Stelle seines Lebens?
Wegener versuchte sich vorzustellen, wie sie mittlerweile aussah. Morgens im Bad überprüfte er in dem großen gerahmten Spiegel, ob sie ihn wohl noch erkennen würde, ob er selbst noch den erkannte, der er damals hinter der letzten Kirchenbank gewesen war. Sicherlich gab es Unterschiede, den dünnen Schnäuzer, die hinaufgezogene Stirn, aber das Wesentliche schien ihm seltsam unverändert: seine farblosen Augen, der vorgeschobene Mund. Fast meinte er, ein Kind sähe ihn aus dem Spiegel an.
Else suchte Anschluss in der Stadt. Mit der Gattin von Professor Gangolf Schwinner, der ebenfalls dem Geologischen Institut angehörte, schloss sie eine Art Freundschaft und lud das Paar bald zum Nachtessen ein. Sie freute sich über die Aussicht, in dem großen Haus regelmäßig Soireen geben zu können.
Wegener jedoch war der bucklige, immerzu verschwitzte Kollege seiner unleidlichen Art wegen so verhasst, dass es ihm, nachdem die beiden eine Viertelstunde vor der Zeit eingetroffen und von Else mit großer Geste zum festlich gedeckten Tisch geleitet worden waren, bereits bei der Suppe reichte.
Voll Stolz berichtete Else, ein Teil des Gemüses für die Bouillon stamme schon aus dem eigenen Garten, während Schwinner mit offenem Mund auf dem Eierstich kaute.
Wegener bereute, einen ganzen Abend an den Kerl zu verschwenden. Vom Hauptgang an – es gab Wild – berichtete Schwinner von seinen Leistungen auf dem Feld der geologischen Mathematik, wobei er auch weitersprach, wenn er sich mit der Serviette nacheinander Mundwinkel, Nase und Stirn abwischte. Während er redete, strich er unablässig über eine kleine Statue aus dunklem Holz, offenbar ein Mitbringsel, obwohl er die Figur noch immer nicht überreicht hatte. Ohne Zweifel hatte er die Schnitzerei von einer Reise nach Afrika mitgebracht. Der Kopf des Mohren glänzte bereits von Schwinners feuchter Hand.
Als der Besuch endlich aus dem Haus war, kam es zum Streit. Wegener sah sich außerstande, das Paar erneut einzuladen. Else machte ihm Vorhaltungen deswegen, und auch Köppen appellierte am nächsten Morgen an Wegeners Menschlichkeit. Man dürfe sich vom ersten Eindruck nicht abschrecken lassen. Er erinnerte an den gemeinsamen Freund, den großen russischen Meteorologen Woeikoff, den seines vernachlässigten Äußeren wegen seinerzeit in Hamburg kein Hotel habe aufnehmen wollen. Wegener erinnerte sich an keinen Mann dieses Namens.
Und da Schwinner auch weiterhin mäkelig blieb, zeigte Wegener sich nicht bereit, von seiner Entscheidung abzurücken. Als ob den Kollegen nicht bereits sein lächerlicher Bart und die walrossartigen Augen zur Genüge disqualifizierten.
Es half nichts, Else musste ihre neue Freundin allein treffen. So sahen sich die beiden Frauen beinahe jeden Abend zu einem gemeinsamen Gang über die Hänge des
Ruckerlbergs, wo man Sicht auf den Sonnenuntergang hatte.
Den Plan von den regelmäßigen Abendeinladungen in der Blumengasse ließ Else bald fallen. Ohnehin kamen sie gar nicht auf eine ausreichende Zahl
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