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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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interessierte sich nicht mehr für Vegetation, er hatte keine Zeit dafür. Und noch viel weniger interessierte er sich für gemeinsame Bekannte.
    So saß Wegener Abend für Abend seinem Schwiegervater gegenüber am Tisch, zwischen ihnen nur einiges Gebäck sowie Elses vor dem Schlafengehen halb geleerte Tasse Tee, und jedes Mal überfiel ihn dieses Gefühl zu gleiten, das er aus Pustervig kannte. Nur war es jetzt die Zeit, auf der er glitt, still und unbemerkt strömte sie unter ihm davon.
    Je länger Köppen sprach – über Nährdienstpflicht und Esperanto, über Bodenreform, Kalenderreform und was immer er sich gerade als Steckenpferd auserkoren hatte, insbesondere aber über den Antialkoholismus, dem er mittlerweile ganz verfallen war –, desto mehr sehnte Wegener sich nach ihrer Korrespondenz zurück. Nach dem Zwang zur Präzision, die das Briefeschreiben mit sich brachte, nach den erhellenden Einsprüchen aus Hamburg – wie oft hatten sie ihn vor Abwegen bewahrt. Aber wer schrieb schon jemandem, der im Nebenzimmer schlief?

    Im Schreiben war Köppen weniger gemütlich gewesen als hier vor Ort. Wegener hatte ihn in seinen Briefen loyaler erlebt. Es kam nun vor, das Köppen auf einen Gedanken Wegeners hin nur eine seiner weiß wuchernden Augenbrauen hochzog und ihn ansah, als müssten sie ihr kleines Geheimnis über die Drift der Kontinente in diesem Rahmen doch nicht aufrechterhalten. Wegener zog es den Boden unter den Füßen fort. Blieb er am Ende allein im Glauben an die Wahrheit?
    Vor allem anderen aber vermisste Wegener seine eigenen Briefe, das Bündeln von Gedanken und Erlebnissen für einen wohlwollenden, gewissenhaften Leser. Er schämte sich dafür, dass sein eigenes Schreiben ihm offenbar das Wichtigste an dem Austausch gewesen war.
    Stattdessen ihr Reden, mit allem, was dazugehörte. Die Abschweifungen, die Wiederholungen, wenn alles längst unmissverständlich geworden war. Die Pausen. Und in diesen Pausen die Lebensgeräusche eines alten Mannes.
    Während also auf der anderen Seite des Tisches Köppen schniefend in seinen weißen, zotteligen Bart hineinmurmelte und ihn durch die kleinen Brillengläser wohl kaum mehr erkannte, wurden Wegener bald die Augen schwer. Als er sie schloss, sah er Heerscharen von Ameisen die Innenseite seiner Lider hinunterlaufen und sich zu einer einzigen flimmernden Fläche vereinen, die immer heller wurde, wie Himmelslichter, wie Schnee. Er sah Landschaften aus nichts, zwischen denen zu seinem Erstaunen Menschen schwebten, mit zerbrechlichen Flügeln wie Libellen, und jeder von ihnen, der ihn sah, legte den Finger an die Lippen und zeigte zum Horizont, wo aber gar nichts zu erkennen war. Oder doch: In der Ferne erkannte
Wegener einen Vorhang aus schwarzen, seidigen Stäben, die sich ihm entgegenbogen. Mit Schrecken sah er, wie sie sich auf einmal hoben, und erkannte, dass es riesenhafte Wimpern waren, die sich vor ihm öffneten, aber es war kein Auge dahinter.
    Am Ende schreckte Wegener auf, rieb sich das Gesicht und bat Köppen um Entschuldigung, er gehöre wohl ins Bett. Erschöpft ging er hinüber und legte sich neben Else, die im Schlafen leise seufzte.

    Sooft es ging, lief Wegener hinaus, am Leonhardbach entlang, vorbei am Waisenhaus der Barmherzigen Brüder und bis hinauf zum Ries. Erst wenn er hinter der Anhöhe das Massiv von Koralpe, Stubalpe und Gleinalpe aufgehen sah, wurde ihm das Herz leichter. Dann blieb er stehen, die Hände hinterm Rücken verschränkt, und sah hinüber auf die weißen Kuppen der Berge. Er konnte nicht genug bekommen von diesem Anblick, und auch wenn er sich endlich sattgesehen hatte und weiterging, blieb er wieder stehen, wo immer sich eine neue Aussicht zeigte.
    Auf diesen Wegen formulierte er die Briefe, die er Köppen nicht mehr schreiben konnte, an sich selbst. Aber er war kein hilfreicher Adressat, womöglich kannte er sich zu gut. Er konnte schlecht zuhören und fiel sich ins Wort, sobald er eine Pause machte. Er lachte über sich selbst und wusste manchmal nicht, wer da lachte.
    Wenn er aufsah, erkannte er den Großen Speikkogel, den Himmel, das Tal der Mur. Auf dem Holz einiger Baumstümpfe fand er erstes Haareis und untersuchte es.
Nach ein, zwei Stunden hatte er genug und machte kehrt. Bergab lief er rasch, die Hände noch immer hinter dem Rücken verschränkt. Das kleine, zerbrechliche Glück dieser Gänge hielt nie lange vor, schon auf Höhe des Waisenhauses senkte er allmählich den Kopf. Wenn er zu Hause eintraf, war er

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