Alles Land - Roman
einmal mehr das. Zuletzt müssen es entsetzliche Qualen gewesen sein.« Der Vater habe kein Wort mehr gesagt, nur immer der schmerzverzerrte Mund. Es habe – man möge entschuldigen – ausgesehen wie ein Grinsen. Die Augen dabei vor Angst geweitet wie bei einem Kind.
Auf dem Weg zum Friedhof schob Alfred seine Mutter an der Spitze des langen Zuges und war froh, an den metallenen Griffen einigermaßen Halt zu finden. Es war Anfang Juli und viel zu heiß für eine Beerdigung. Wegener schwitzte in seinem Anzug. Wie klein die Grube wirkte, jetzt, da sie alle groß geworden waren. Wie lange war es her, dass er zum letzten Mal gebetet hatte?
Verstohlen sah er sich um: Der kleine Friedhof war hoffnungslos überfüllt. Auf allen Kieswegen und zwischen den Gräbern standen schwarz gekleidet die Geschwister jeden Alters und falteten die Hände. Gemeinsam öffneten sich die Münder zum Gebet: »Vater unser, der du bist im Himmel«. Welcher Vater war da gemeint? Anschließend sang man die alten Choräle, »Denn alles Fleisch, es ist wie Gras« und »De profundis«, und wie im Schlaf kannte jeder seine Stimme. Hinter sich hörte er Kurts brüchigen Bariton.
Wegener sang mit, ohne auf die Worte zu achten. Else hing an seinem Arm und drückte ihm die Wölbung ihres Bauches in die Seite, anders als vorhergesehen, war sie nun doch wieder guter Hoffnung. Der neue Pfarrer sagte, dem Herrn habe es gefallen, seinen Sohn mittels einer Geschwulst der Speiseröhre zu sich zu holen, und Wegener dachte darüber nach, ob seinem Vater ein solcher Satz recht gewesen wäre. Dann bückte er sich, nahm eine Handvoll Erde und warf sie in die Öffnung.
Im Stillen dachte er: Ich habe unsere Wette gewonnen. Ohne Häme, aber mit dem sicheren Gefühl, im Recht zu sein. Offenbar hatte der Vater an seinem Lebensende keinen Trost in Gott gefunden. Dann fiel ihm ein, dass auch er den Beweis schuldig geblieben war, ob ihm selbst das in der Wissenschaft gelang. Wie viel Zeit blieb ihm dafür? War es möglich, dass sie am Ende beide verloren?
Beim Leichenschmaus gab es Quittenbrot und Eiswasser, Kurt und Tony saßen mit am Tisch, die Mutter zwischen sich, aber niemandem stand der Sinn nach Reden. Else versuchte Hilde zu überreden, vom Gebäck der Großmutter zu probieren, nahm aber selber nichts.
Anschließend ging jeder wieder seiner Wege. Hilde schrie die ganze Rückfahrt über, der Wagen schlug entsetzlich, und Wegener hätte gerne mitgeschrien. Zu Hause angekommen, nahm er sich vor, krank zu werden. Nicht einmal das gelang.
Morgens blieb Else nun oft unter ihrem schweren Ballonbettzeug liegen, unter dem es Wegener viel zu heiß war. Sie schaffte es kaum mehr die Treppen hinauf, so dass er die vollen Wäschekörbe allein durchs Stiegenhaus wuchtete. Es war unvorstellbar, was Hilde täglich an dreckiger Garderobe produzierte.
Ihr erstes Kind war bei Kriegsbeginn geboren worden. Am 11. November des Jahres 1918 schlossen Frankreich und die letzten Reste des Kaiserreiches in einem Eisenbahnwaggon im Wäldchen bei Compiègne Waffenstillstand. Neun Millionen Menschen hatte der Krieg das Leben gekostet.
Um Mitternacht kam Wegeners zweite Tochter zur Welt. Sie nannten sie Käte. Im Schein der Gaslampe war ihr Gesicht kaum zu erkennen vor Schreierei.
In zwei Briefen setzte Wegener seine Mutter und die Schwiegereltern von der Geburt einer weiteren Enkeltochter in Kenntnis, zusammen mit Grüßen der geschwächten, aber wohlbehaltenen Else. Er selbst sei unsicher, vermerkte ein Postskriptum an Köppen, welchem der siebenundsechzig drängendsten Themen er sich nach Abschluss des Meteoraufsatzes zuwenden solle.
Unterdessen war er zum Titularprofessor ernannt worden. Wegener hatte ein wenig gezögert, bevor er den Bestellungsbescheid unterzeichnete, in dem ihm der Minister das Prädikat beilegte. Mit seiner Unterschrift erkläre er feierlich, hieß es darin, seiner Majestät dem Könige und dem Allerhöchsten Königlichen Hause in unverbrüchlicher Treue ergeben zu bleiben. Unverbrüchlich, was sollte das sein?
Mittlerweile gab es keinen König mehr, am Morgen nach Kätes Geburt hatten die Zeitungen Wilhelms Verzicht auf die Krone gemeldet.
Käte war ein ausgesprochen lautes Kind. Ruhe gab sie nur, wenn ihr Vater an ihrer Wiege sang, aber konnte er den lieben langen Tag singen? Er schlief mittlerweile auf einem einfachen Lager in der Diele, um wenigstens nachts zu sich zu kommen. Die Konstruktion aus rohen Wolldecken erinnerte ihn an seine Koje in
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